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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Erstes Wäldchen.
Barbarei, sondern weil die Thränen der Trojaner,
seiner Kinder, fressender waren, als die Thränen
der Griechen. Diese waren Angreifende, und strit-
ten um der Ehre wegen; ihnen wards also leichter,
neuen Muth zu fassen, und Agamemnon brauchte
deßwegen keine Besorgniß. Die Trojaner aber
litten: sie waren Angefallene, die nicht der Ehre
so wohl als der Sicherheit, ihres Lebens wegen strit-
ten a), die sich in Bedrängniß fühlten, und halb
in Verzweiflung, eines Räubers wegen, ihre Kin-
der und Männer verlieren, eines Räubers wegen
die Jhrigen begraben mußten. Hier empörten sich
die Empfindungen der Bedrängten, hier flossen
heiße Thränen der murrenden Unschuld. Und
Priamus ließ sie nicht weinen! Warum? weil er
ein ungesitteter Barbar war, und seine Trojaner
als solche kannte, die nicht zugleich weinen und
streiten könnten? Wie wenn er sie zurückgehalten
hätte, als ein Vater seiner unglücklichen Stadt, und
seines unglückbringenden Sohns? damit sie nicht
in einem Schicksale, das ihm selbst so zu Herzen
gieng, gar murren oder verzweifeln möchten? --
Doch wenn das auch nicht: noch sind die Trojaner
keine Lappländer, keine Scythen: denn sie weinen
ja um die Jhrigen, und Priamus befürchtet eben
ein zu weiches Herz, zu tief einfressende Thränen.

Ge-
a) Khreioi anagkaie, pro te paidon kai pro gunaikon. Iliad.
th, 57.

Erſtes Waͤldchen.
Barbarei, ſondern weil die Thraͤnen der Trojaner,
ſeiner Kinder, freſſender waren, als die Thraͤnen
der Griechen. Dieſe waren Angreifende, und ſtrit-
ten um der Ehre wegen; ihnen wards alſo leichter,
neuen Muth zu faſſen, und Agamemnon brauchte
deßwegen keine Beſorgniß. Die Trojaner aber
litten: ſie waren Angefallene, die nicht der Ehre
ſo wohl als der Sicherheit, ihres Lebens wegen ſtrit-
ten a), die ſich in Bedraͤngniß fuͤhlten, und halb
in Verzweiflung, eines Raͤubers wegen, ihre Kin-
der und Maͤnner verlieren, eines Raͤubers wegen
die Jhrigen begraben mußten. Hier empoͤrten ſich
die Empfindungen der Bedraͤngten, hier floſſen
heiße Thraͤnen der murrenden Unſchuld. Und
Priamus ließ ſie nicht weinen! Warum? weil er
ein ungeſitteter Barbar war, und ſeine Trojaner
als ſolche kannte, die nicht zugleich weinen und
ſtreiten koͤnnten? Wie wenn er ſie zuruͤckgehalten
haͤtte, als ein Vater ſeiner ungluͤcklichen Stadt, und
ſeines ungluͤckbringenden Sohns? damit ſie nicht
in einem Schickſale, das ihm ſelbſt ſo zu Herzen
gieng, gar murren oder verzweifeln moͤchten? —
Doch wenn das auch nicht: noch ſind die Trojaner
keine Lapplaͤnder, keine Scythen: denn ſie weinen
ja um die Jhrigen, und Priamus befuͤrchtet eben
ein zu weiches Herz, zu tief einfreſſende Thraͤnen.

Ge-
a) Χρειοῖ ἀναγκαίῃ, πρό τε παίδων καὶ πρὸ γυναῖκων. Iliad.
ϑ, 57.
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[31/0037] Erſtes Waͤldchen. Barbarei, ſondern weil die Thraͤnen der Trojaner, ſeiner Kinder, freſſender waren, als die Thraͤnen der Griechen. Dieſe waren Angreifende, und ſtrit- ten um der Ehre wegen; ihnen wards alſo leichter, neuen Muth zu faſſen, und Agamemnon brauchte deßwegen keine Beſorgniß. Die Trojaner aber litten: ſie waren Angefallene, die nicht der Ehre ſo wohl als der Sicherheit, ihres Lebens wegen ſtrit- ten a), die ſich in Bedraͤngniß fuͤhlten, und halb in Verzweiflung, eines Raͤubers wegen, ihre Kin- der und Maͤnner verlieren, eines Raͤubers wegen die Jhrigen begraben mußten. Hier empoͤrten ſich die Empfindungen der Bedraͤngten, hier floſſen heiße Thraͤnen der murrenden Unſchuld. Und Priamus ließ ſie nicht weinen! Warum? weil er ein ungeſitteter Barbar war, und ſeine Trojaner als ſolche kannte, die nicht zugleich weinen und ſtreiten koͤnnten? Wie wenn er ſie zuruͤckgehalten haͤtte, als ein Vater ſeiner ungluͤcklichen Stadt, und ſeines ungluͤckbringenden Sohns? damit ſie nicht in einem Schickſale, das ihm ſelbſt ſo zu Herzen gieng, gar murren oder verzweifeln moͤchten? — Doch wenn das auch nicht: noch ſind die Trojaner keine Lapplaͤnder, keine Scythen: denn ſie weinen ja um die Jhrigen, und Priamus befuͤrchtet eben ein zu weiches Herz, zu tief einfreſſende Thraͤnen. Ge- a) Χρειοῖ ἀναγκαίῃ, πρό τε παίδων καὶ πρὸ γυναῖκων. Iliad. ϑ, 57.

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/37>, abgerufen am 21.11.2024.