[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. Pein, aber als Held: so stirbt er. -- So stirbtder Eskimaux a) an seinem Marterpfal. Freund, und Vaterland, Kinder und Mutter, alles, was ihm auf seiner Welt das liebste ist, ruffet er in seinem Sterbegesange; aber, um über sie zu weinen, um den Zoll der Menschlichkeit zu entrichten? Eine ein- zige weiche Thräne würde den Helden, sein ganzes Geschlecht, und seinen Freund und sein Vaterland entehren. Kein Ach also entwischt ihm, selbst unter den grausamsten Schmerzen: gesenget und gebrannt singt er seinen Martergesang. Er wird zum desto langsamern Tode losgebunden, und -- raucht mit Scherz und Spott seine Pfeife Tobak mit andern: die Martern fangen wieder an; er spottet, schweigt, wird ihr Lehrer in neuen Qualen, singt und stirbt im Triumphe. So der Eskimaux! Wo also das Herz eines Volkes Kieselstein ist: pfer- a) Geschichte von Amerika, Th. I. p. 404. C 2
Erſtes Waͤldchen. Pein, aber als Held: ſo ſtirbt er. — So ſtirbtder Eskimaux a) an ſeinem Marterpfal. Freund, und Vaterland, Kinder und Mutter, alles, was ihm auf ſeiner Welt das liebſte iſt, ruffet er in ſeinem Sterbegeſange; aber, um uͤber ſie zu weinen, um den Zoll der Menſchlichkeit zu entrichten? Eine ein- zige weiche Thraͤne wuͤrde den Helden, ſein ganzes Geſchlecht, und ſeinen Freund und ſein Vaterland entehren. Kein Ach alſo entwiſcht ihm, ſelbſt unter den grauſamſten Schmerzen: geſenget und gebrannt ſingt er ſeinen Martergeſang. Er wird zum deſto langſamern Tode losgebunden, und — raucht mit Scherz und Spott ſeine Pfeife Tobak mit andern: die Martern fangen wieder an; er ſpottet, ſchweigt, wird ihr Lehrer in neuen Qualen, ſingt und ſtirbt im Triumphe. So der Eskimaux! Wo alſo das Herz eines Volkes Kieſelſtein iſt: pfer- a) Geſchichte von Amerika, Th. I. p. 404. C 2
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Erſtes Waͤldchen.
Pein, aber als Held: ſo ſtirbt er. — So ſtirbt
der Eskimaux a) an ſeinem Marterpfal. Freund,
und Vaterland, Kinder und Mutter, alles, was ihm
auf ſeiner Welt das liebſte iſt, ruffet er in ſeinem
Sterbegeſange; aber, um uͤber ſie zu weinen, um
den Zoll der Menſchlichkeit zu entrichten? Eine ein-
zige weiche Thraͤne wuͤrde den Helden, ſein ganzes
Geſchlecht, und ſeinen Freund und ſein Vaterland
entehren. Kein Ach alſo entwiſcht ihm, ſelbſt unter
den grauſamſten Schmerzen: geſenget und gebrannt
ſingt er ſeinen Martergeſang. Er wird zum deſto
langſamern Tode losgebunden, und — raucht mit
Scherz und Spott ſeine Pfeife Tobak mit andern:
die Martern fangen wieder an; er ſpottet, ſchweigt,
wird ihr Lehrer in neuen Qualen, ſingt und ſtirbt
im Triumphe. So der Eskimaux!
Wo alſo das Herz eines Volkes Kieſelſtein iſt:
da ſchlaͤgt der heftigſte Schmerz, er treffe nun Leib
oder Seele, nichts als heroiſche Funken; denn wo-
her ſollte dem Kieſelſtein eine zarte elegiſche Thraͤne
kommen? Der Heldenmuth, die Liebe zum Vater-
lande, und zum Ruhme ſeines Stammes, das he-
roiſche Buͤndniß mit ſeinem Freunde, der ſein Rach-
engel ſeyn ſoll: die ganze Bildung einer rohen und
ſtarken Natur zum unerſchuͤtterten Nachfolger
Odins und anderer thraͤnenloſen Helden, die ih-
rem Volk, ihrer Republick, eben den Geiſt der Ta-
pfer-
a) Geſchichte von Amerika, Th. I. p. 404.
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