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[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

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Kritische Wälder.
pferkeit einflößen -- dieß alles betäubte Menschlich-
keit und Gefühl und Thränen.

2. Nun laßt diesen Heldenmuth, diese Liebe
zum Vaterlande, und zum Ruhme seines Stammes,
dieß Gefühl für Freundschaft, und die unverhüllte
Offenheit der Seele -- laßt diese edle und große
Gesinnungen sich alle ohne solche Verschanzung
und Verhärtung äußern: die größte Tapferkeit
wird sich alsdenn immer als die empfindbarste
Menschheit zeigen. "Nach ihren Thaten werden
"solche Leute Geschöpfe höherer Art seyn; nach ihren
"Empfindungen Menschen."

Und sollte es nur unter den Griechen diese Dop-
pelgeschöpfe höherer Art, diese Heldenmenschen, diese
Semonen gegeben haben? Und unsre Ureltern
wären Barbarn, und alle nordische Barbarn in
diesem Stück Unmenschen gewesen? Menschliches
Gefühl muß jedem einwohnen, der ein Mensch ist;
es muß, wo es erstickt, wo es in rohe Tapferkeit
verschlungen werden soll, erst von tausend Beispie-
len, von einem großen unter einer Nation lebenden
Vorbilde, von dem ganzen Geiste des Volks, und
durch alle Eindrücke der Erziehung von Jugend auf
gewaltig bestürmt, und dahin endlich gerissen wer-
den, daß es mit diesen Beispielen wetteifre, daß
es diesem großen Vorbilde, das den Geist dieses
Volks bestimmet, folge. Wo dies nicht ist: da
wird sich die unverhüllte Natur zeigen; die Empfin-

dun-

Kritiſche Waͤlder.
pferkeit einfloͤßen — dieß alles betaͤubte Menſchlich-
keit und Gefuͤhl und Thraͤnen.

2. Nun laßt dieſen Heldenmuth, dieſe Liebe
zum Vaterlande, und zum Ruhme ſeines Stammes,
dieß Gefuͤhl fuͤr Freundſchaft, und die unverhuͤllte
Offenheit der Seele — laßt dieſe edle und große
Geſinnungen ſich alle ohne ſolche Verſchanzung
und Verhaͤrtung aͤußern: die groͤßte Tapferkeit
wird ſich alsdenn immer als die empfindbarſte
Menſchheit zeigen. „Nach ihren Thaten werden
„ſolche Leute Geſchoͤpfe hoͤherer Art ſeyn; nach ihren
„Empfindungen Menſchen.„

Und ſollte es nur unter den Griechen dieſe Dop-
pelgeſchoͤpfe hoͤherer Art, dieſe Heldenmenſchen, dieſe
Semonen gegeben haben? Und unſre Ureltern
waͤren Barbarn, und alle nordiſche Barbarn in
dieſem Stuͤck Unmenſchen geweſen? Menſchliches
Gefuͤhl muß jedem einwohnen, der ein Menſch iſt;
es muß, wo es erſtickt, wo es in rohe Tapferkeit
verſchlungen werden ſoll, erſt von tauſend Beiſpie-
len, von einem großen unter einer Nation lebenden
Vorbilde, von dem ganzen Geiſte des Volks, und
durch alle Eindruͤcke der Erziehung von Jugend auf
gewaltig beſtuͤrmt, und dahin endlich geriſſen wer-
den, daß es mit dieſen Beiſpielen wetteifre, daß
es dieſem großen Vorbilde, das den Geiſt dieſes
Volks beſtimmet, folge. Wo dies nicht iſt: da
wird ſich die unverhuͤllte Natur zeigen; die Empfin-

dun-
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[36/0042] Kritiſche Waͤlder. pferkeit einfloͤßen — dieß alles betaͤubte Menſchlich- keit und Gefuͤhl und Thraͤnen. 2. Nun laßt dieſen Heldenmuth, dieſe Liebe zum Vaterlande, und zum Ruhme ſeines Stammes, dieß Gefuͤhl fuͤr Freundſchaft, und die unverhuͤllte Offenheit der Seele — laßt dieſe edle und große Geſinnungen ſich alle ohne ſolche Verſchanzung und Verhaͤrtung aͤußern: die groͤßte Tapferkeit wird ſich alsdenn immer als die empfindbarſte Menſchheit zeigen. „Nach ihren Thaten werden „ſolche Leute Geſchoͤpfe hoͤherer Art ſeyn; nach ihren „Empfindungen Menſchen.„ Und ſollte es nur unter den Griechen dieſe Dop- pelgeſchoͤpfe hoͤherer Art, dieſe Heldenmenſchen, dieſe Semonen gegeben haben? Und unſre Ureltern waͤren Barbarn, und alle nordiſche Barbarn in dieſem Stuͤck Unmenſchen geweſen? Menſchliches Gefuͤhl muß jedem einwohnen, der ein Menſch iſt; es muß, wo es erſtickt, wo es in rohe Tapferkeit verſchlungen werden ſoll, erſt von tauſend Beiſpie- len, von einem großen unter einer Nation lebenden Vorbilde, von dem ganzen Geiſte des Volks, und durch alle Eindruͤcke der Erziehung von Jugend auf gewaltig beſtuͤrmt, und dahin endlich geriſſen wer- den, daß es mit dieſen Beiſpielen wetteifre, daß es dieſem großen Vorbilde, das den Geiſt dieſes Volks beſtimmet, folge. Wo dies nicht iſt: da wird ſich die unverhuͤllte Natur zeigen; die Empfin- dun-

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Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/42>, abgerufen am 21.11.2024.