Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.

Bild:
<< vorherige Seite
Kritische Wälder.

Jch kenne kein poetisches Volk der Erde, wel-
ches große und sanfte Empfindungen, so sehr in Eine
Gesinnung verbunden, und in Einer Seele den
Heroismus des Helden- und Menschengefühls so
ganz gehabt hätte, als die -- alten Schotten, nach
Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Gesänge. Eine
sichere Maasgabe, da die Ursprünglichkeit dieser Lie-
der bewiesen, und das ganze Leben der Nation be-
kannt ist, als ein Leben, das unter Thaten, Em-
pfindungen und Gesängen verstrich, und wo die Ge-
sänge eben zu nichts bestimmt waren, als diese
Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies
also vorausgesetzt: und in jedem Bardenliede zeigt
sich ein Volk, dessen Seele ganz der Tapferkeit und
einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, dessen
Denkart überhaupt von einem Heldenernst eine ge-
wisse melancholische Farbe erhalten, und diese auch
auf seine weichen Empfindungen verbreitete. Die
meisten Stücke der hersischen Dichtkunst kann ich
nicht besser, als feyerliche Trauergesänge nen-
nen, an die nichts im Alterthume, und was diese
Seite des Gefühls betrifft, selbst nichts im griechi-
schen Alterthume reicht.

Schilrick a) scheidet von seiner geliebten Vin-
vela:
fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er
verläßt sie: sie bleibt allein: er wird vielleicht fal-
len; aber Vinvela wird sein gedenken. Jch ken-

ne
a) Fragmente der alten Hochschottl. Dichtk. p. 1.
Kritiſche Waͤlder.

Jch kenne kein poetiſches Volk der Erde, wel-
ches große und ſanfte Empfindungen, ſo ſehr in Eine
Geſinnung verbunden, und in Einer Seele den
Heroismus des Helden- und Menſchengefuͤhls ſo
ganz gehabt haͤtte, als die — alten Schotten, nach
Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Geſaͤnge. Eine
ſichere Maasgabe, da die Urſpruͤnglichkeit dieſer Lie-
der bewieſen, und das ganze Leben der Nation be-
kannt iſt, als ein Leben, das unter Thaten, Em-
pfindungen und Geſaͤngen verſtrich, und wo die Ge-
ſaͤnge eben zu nichts beſtimmt waren, als dieſe
Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies
alſo vorausgeſetzt: und in jedem Bardenliede zeigt
ſich ein Volk, deſſen Seele ganz der Tapferkeit und
einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, deſſen
Denkart uͤberhaupt von einem Heldenernſt eine ge-
wiſſe melancholiſche Farbe erhalten, und dieſe auch
auf ſeine weichen Empfindungen verbreitete. Die
meiſten Stuͤcke der herſiſchen Dichtkunſt kann ich
nicht beſſer, als feyerliche Trauergeſaͤnge nen-
nen, an die nichts im Alterthume, und was dieſe
Seite des Gefuͤhls betrifft, ſelbſt nichts im griechi-
ſchen Alterthume reicht.

Schilrick a) ſcheidet von ſeiner geliebten Vin-
vela:
fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er
verlaͤßt ſie: ſie bleibt allein: er wird vielleicht fal-
len; aber Vinvela wird ſein gedenken. Jch ken-

ne
a) Fragmente der alten Hochſchottl. Dichtk. p. 1.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0044" n="38"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi> </fw><lb/>
          <p>Jch kenne kein poeti&#x017F;ches Volk der Erde, wel-<lb/>
ches große und &#x017F;anfte Empfindungen, &#x017F;o &#x017F;ehr in Eine<lb/>
Ge&#x017F;innung verbunden, und in Einer Seele den<lb/>
Heroismus des Helden- und Men&#x017F;chengefu&#x0364;hls &#x017F;o<lb/>
ganz gehabt ha&#x0364;tte, als die &#x2014; alten Schotten, nach<lb/>
Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Ge&#x017F;a&#x0364;nge. Eine<lb/>
&#x017F;ichere Maasgabe, da die Ur&#x017F;pru&#x0364;nglichkeit die&#x017F;er Lie-<lb/>
der bewie&#x017F;en, und das ganze Leben der Nation be-<lb/>
kannt i&#x017F;t, als ein Leben, das unter Thaten, Em-<lb/>
pfindungen und Ge&#x017F;a&#x0364;ngen ver&#x017F;trich, und wo die Ge-<lb/>
&#x017F;a&#x0364;nge eben zu nichts be&#x017F;timmt waren, als die&#x017F;e<lb/>
Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies<lb/>
al&#x017F;o vorausge&#x017F;etzt: und in jedem Bardenliede zeigt<lb/>
&#x017F;ich ein Volk, de&#x017F;&#x017F;en Seele ganz der Tapferkeit und<lb/>
einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Denkart u&#x0364;berhaupt von einem Heldenern&#x017F;t eine ge-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;e melancholi&#x017F;che Farbe erhalten, und die&#x017F;e auch<lb/>
auf &#x017F;eine weichen Empfindungen verbreitete. Die<lb/>
mei&#x017F;ten Stu&#x0364;cke der her&#x017F;i&#x017F;chen Dichtkun&#x017F;t kann ich<lb/>
nicht be&#x017F;&#x017F;er, als <hi rendition="#fr">feyerliche Trauerge&#x017F;a&#x0364;nge</hi> nen-<lb/>
nen, an die nichts im Alterthume, und was die&#x017F;e<lb/>
Seite des Gefu&#x0364;hls betrifft, &#x017F;elb&#x017F;t nichts im griechi-<lb/>
&#x017F;chen Alterthume reicht.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#fr">Schilrick</hi><note place="foot" n="a)">Fragmente der alten Hoch&#x017F;chottl. Dichtk. <hi rendition="#aq">p.</hi> 1.</note> &#x017F;cheidet von &#x017F;einer geliebten <hi rendition="#fr">Vin-<lb/>
vela:</hi> fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er<lb/>
verla&#x0364;ßt &#x017F;ie: &#x017F;ie bleibt allein: er wird vielleicht fal-<lb/>
len; aber <hi rendition="#fr">Vinvela</hi> wird &#x017F;ein gedenken. Jch ken-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ne</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[38/0044] Kritiſche Waͤlder. Jch kenne kein poetiſches Volk der Erde, wel- ches große und ſanfte Empfindungen, ſo ſehr in Eine Geſinnung verbunden, und in Einer Seele den Heroismus des Helden- und Menſchengefuͤhls ſo ganz gehabt haͤtte, als die — alten Schotten, nach Maasgabe ihrer jetzt aufgefundnen Geſaͤnge. Eine ſichere Maasgabe, da die Urſpruͤnglichkeit dieſer Lie- der bewieſen, und das ganze Leben der Nation be- kannt iſt, als ein Leben, das unter Thaten, Em- pfindungen und Geſaͤngen verſtrich, und wo die Ge- ſaͤnge eben zu nichts beſtimmt waren, als dieſe Thaten und Empfindungen zu verewigen. Dies alſo vorausgeſetzt: und in jedem Bardenliede zeigt ſich ein Volk, deſſen Seele ganz der Tapferkeit und einer feierlichen Liebe flammete; ein Volk, deſſen Denkart uͤberhaupt von einem Heldenernſt eine ge- wiſſe melancholiſche Farbe erhalten, und dieſe auch auf ſeine weichen Empfindungen verbreitete. Die meiſten Stuͤcke der herſiſchen Dichtkunſt kann ich nicht beſſer, als feyerliche Trauergeſaͤnge nen- nen, an die nichts im Alterthume, und was dieſe Seite des Gefuͤhls betrifft, ſelbſt nichts im griechi- ſchen Alterthume reicht. Schilrick a) ſcheidet von ſeiner geliebten Vin- vela: fern weg, fern weg in Fingals Kriege: er verlaͤßt ſie: ſie bleibt allein: er wird vielleicht fal- len; aber Vinvela wird ſein gedenken. Jch ken- ne a) Fragmente der alten Hochſchottl. Dichtk. p. 1.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/44
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische01_1769/44>, abgerufen am 03.12.2024.