[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Kritische Wälder. sich dieß, die beide als Knaben in den Armen derNacht ruhend vorgestellt wurden, und so gar bis auf die höllischen Götter -- schönes Feld von Vorstellungen für den Künstler, dem also seine Re- ligion es wenigstens nicht auflegte, zur Schande des Geschmacks, und zum Ekel der Empfindung arbeiten zu müssen. Da waren keine Bilder des Abscheues, wie in der skandinavischen und andern nordischen Religionen: keine Fratzenvorstellungen, wie in den Mythologien der heidnischen Mittaglän- der: kein Knochenmann, der den Tod, kein Unge- heuer, das den Teufel vorstellen sollte, wie nach den Jdolen unseres Pöbels; unter allen Völkern der Er- de haben die Griechen, was den sinnlichen, den bildsamen Theil der Religion anbetrift, die beste Mythologie gehabt: selbst die Kolonien ihrer Reli- gion, nicht ausgenommen. Zweitens: doch aber gab es ja so häufige Vor- ren;
Kritiſche Waͤlder. ſich dieß, die beide als Knaben in den Armen derNacht ruhend vorgeſtellt wurden, und ſo gar bis auf die hoͤlliſchen Goͤtter — ſchoͤnes Feld von Vorſtellungen fuͤr den Kuͤnſtler, dem alſo ſeine Re- ligion es wenigſtens nicht auflegte, zur Schande des Geſchmacks, und zum Ekel der Empfindung arbeiten zu muͤſſen. Da waren keine Bilder des Abſcheues, wie in der ſkandinaviſchen und andern nordiſchen Religionen: keine Fratzenvorſtellungen, wie in den Mythologien der heidniſchen Mittaglaͤn- der: kein Knochenmann, der den Tod, kein Unge- heuer, das den Teufel vorſtellen ſollte, wie nach den Jdolen unſeres Poͤbels; unter allen Voͤlkern der Er- de haben die Griechen, was den ſinnlichen, den bildſamen Theil der Religion anbetrift, die beſte Mythologie gehabt: ſelbſt die Kolonien ihrer Reli- gion, nicht ausgenommen. Zweitens: doch aber gab es ja ſo haͤufige Vor- ren;
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Kritiſche Waͤlder.
ſich dieß, die beide als Knaben in den Armen der
Nacht ruhend vorgeſtellt wurden, und ſo gar bis
auf die hoͤlliſchen Goͤtter — ſchoͤnes Feld von
Vorſtellungen fuͤr den Kuͤnſtler, dem alſo ſeine Re-
ligion es wenigſtens nicht auflegte, zur Schande
des Geſchmacks, und zum Ekel der Empfindung
arbeiten zu muͤſſen. Da waren keine Bilder des
Abſcheues, wie in der ſkandinaviſchen und andern
nordiſchen Religionen: keine Fratzenvorſtellungen,
wie in den Mythologien der heidniſchen Mittaglaͤn-
der: kein Knochenmann, der den Tod, kein Unge-
heuer, das den Teufel vorſtellen ſollte, wie nach den
Jdolen unſeres Poͤbels; unter allen Voͤlkern der Er-
de haben die Griechen, was den ſinnlichen, den
bildſamen Theil der Religion anbetrift, die beſte
Mythologie gehabt: ſelbſt die Kolonien ihrer Reli-
gion, nicht ausgenommen.
Zweitens: doch aber gab es ja ſo haͤufige Vor-
ſtellungsarten, Situationen, und Geſchichte ihrer
Religion, die immer auch fuͤr den Kuͤnſtler widerli-
che Geſtalten liefern mußten, wenn nicht als Haupt-
ſo als Nebenideen: wie nun? Als Nebenideen frei-
lich, und eine Mythologie, die nichts als Geſtalten
in ſeliger Ruhe lieferte, waͤre fuͤr den Dichter gewiß
eine todte, einfoͤrmige Mythologie geweſen, und
haͤtte keine Griechen an Poeſie hervorbringen koͤn-
nen. Gnug aber, daß dieß Nebenideen, unter-
geordnete Begriffe, wandelbare Vorſtellungen wa-
ren;
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