[Herder, Johann Gottfried von]: Kritische Wälder. Bd. 1. [Riga], 1769.Erstes Wäldchen. manth dorfte also nicht erst mit sich darüber ver-nünfteln. Er wäre frech gewesen, wenn er, was der Dichter verhüllt hatte, hätte entblössen wollen, zumal es auf seine Kunst so sehr zutraf. Warum ihn aber der Dichter verhüllt? ob etwa einem künf- tigen Timanthes zu gut? ob etwa eine Figur zu verhüten, die sich nicht malen ließe? ob um der Kunst ein Opfer zu bringen? Der Kunst freilich; aber kaum dem Pinsel des Timanthes, sondern sei- nem eigenen Schauspiel, und der Grazie desselben! Nicht, als wenn diese bei der Opferung eines Kindes einen stoischen Helden foderte; so unmensch- lich ist die griechische Grazie nicht. Nicht, als wenn sie einen betrübten ächzenden Vater nicht dul- dete; warum nicht, wenn es damit gethan wäre? Aber hier sollte er den höchsten Ton des väterlichen Schmerzes, und des entsetzlichsten Jammers: ihn sollte ein Held anstimmen, der zugleich König war, der dadurch die Griechen rettete, der ihnen die Opfe- rung versprochen hatte: dieser also sein Wort bre- chen, sein Volk nicht lieben, dafür auch nicht etwas Saures thun wollen? Er lasse sie opfern, er rase nicht wie ein Klageweib vergebens umher: er wende sein Auge ab, und weine väterliche Thränen: so er- scheint er -- würdig dem Könige und dem Va- ter, mithin auch würdig der theatralischen Grazie. Nur da diese einer andern Person, einer Clytemne- stra, einer Hekuba und andern Helden noch wahr- schein- F 5
Erſtes Waͤldchen. manth dorfte alſo nicht erſt mit ſich daruͤber ver-nuͤnfteln. Er waͤre frech geweſen, wenn er, was der Dichter verhuͤllt hatte, haͤtte entbloͤſſen wollen, zumal es auf ſeine Kunſt ſo ſehr zutraf. Warum ihn aber der Dichter verhuͤllt? ob etwa einem kuͤnf- tigen Timanthes zu gut? ob etwa eine Figur zu verhuͤten, die ſich nicht malen ließe? ob um der Kunſt ein Opfer zu bringen? Der Kunſt freilich; aber kaum dem Pinſel des Timanthes, ſondern ſei- nem eigenen Schauſpiel, und der Grazie deſſelben! Nicht, als wenn dieſe bei der Opferung eines Kindes einen ſtoiſchen Helden foderte; ſo unmenſch- lich iſt die griechiſche Grazie nicht. Nicht, als wenn ſie einen betruͤbten aͤchzenden Vater nicht dul- dete; warum nicht, wenn es damit gethan waͤre? Aber hier ſollte er den hoͤchſten Ton des vaͤterlichen Schmerzes, und des entſetzlichſten Jammers: ihn ſollte ein Held anſtimmen, der zugleich Koͤnig war, der dadurch die Griechen rettete, der ihnen die Opfe- rung verſprochen hatte: dieſer alſo ſein Wort bre- chen, ſein Volk nicht lieben, dafuͤr auch nicht etwas Saures thun wollen? Er laſſe ſie opfern, er raſe nicht wie ein Klageweib vergebens umher: er wende ſein Auge ab, und weine vaͤterliche Thraͤnen: ſo er- ſcheint er — wuͤrdig dem Koͤnige und dem Va- ter, mithin auch wuͤrdig der theatraliſchen Grazie. Nur da dieſe einer andern Perſon, einer Clytemne- ſtra, einer Hekuba und andern Helden noch wahr- ſchein- F 5
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Erſtes Waͤldchen.
manth dorfte alſo nicht erſt mit ſich daruͤber ver-
nuͤnfteln. Er waͤre frech geweſen, wenn er, was
der Dichter verhuͤllt hatte, haͤtte entbloͤſſen wollen,
zumal es auf ſeine Kunſt ſo ſehr zutraf. Warum
ihn aber der Dichter verhuͤllt? ob etwa einem kuͤnf-
tigen Timanthes zu gut? ob etwa eine Figur zu
verhuͤten, die ſich nicht malen ließe? ob um der
Kunſt ein Opfer zu bringen? Der Kunſt freilich;
aber kaum dem Pinſel des Timanthes, ſondern ſei-
nem eigenen Schauſpiel, und der Grazie deſſelben!
Nicht, als wenn dieſe bei der Opferung eines
Kindes einen ſtoiſchen Helden foderte; ſo unmenſch-
lich iſt die griechiſche Grazie nicht. Nicht, als
wenn ſie einen betruͤbten aͤchzenden Vater nicht dul-
dete; warum nicht, wenn es damit gethan waͤre?
Aber hier ſollte er den hoͤchſten Ton des vaͤterlichen
Schmerzes, und des entſetzlichſten Jammers: ihn
ſollte ein Held anſtimmen, der zugleich Koͤnig war,
der dadurch die Griechen rettete, der ihnen die Opfe-
rung verſprochen hatte: dieſer alſo ſein Wort bre-
chen, ſein Volk nicht lieben, dafuͤr auch nicht etwas
Saures thun wollen? Er laſſe ſie opfern, er raſe
nicht wie ein Klageweib vergebens umher: er wende
ſein Auge ab, und weine vaͤterliche Thraͤnen: ſo er-
ſcheint er — wuͤrdig dem Koͤnige und dem Va-
ter, mithin auch wuͤrdig der theatraliſchen Grazie.
Nur da dieſe einer andern Perſon, einer Clytemne-
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