Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. zulachen schienen; aber wie lange hat man schon dieKunst in die Stelle der Natur gesetzt, und menschliche Verabredungen zu Naturtrieben erhoben? Wie lan- ge aber, frage ich weiter, hat es nicht auch halbklu- ge Spötter gegeben, die, da sie Etwas in solchen Sachen menschlich verabredet, gesellschaftlich einge- richtet fanden; endlich alles im Menschen für menschlich verabredet, für willkürlich eingepflanzet, hielten. Sie bestürmten also auch die heiligen Ge- setze der Natur: sie entweiheten also auch den Altar der liebenswürdigsten Tugend Schamhaftigkeit: ja sie, die frechsten Cyniker, und der Pöbel der Epi- kureer baueten endlich der Unverschämtheit selbst Al- täre. Wenn die Vermischung des Angenomme- nen mit dem Natürlichen in dieser Empfindung al- so weit abführen kann: ich dächte, so könnte doch der Philosoph frei unterscheiden dörfen, und das Ge- setz des Aristoteles anwenden: den Jünglingen macht Schamhaftigkeit Ehre, den lehrenden Alten aber Schande. Jch fahre also fort. Die künstliche gesellschaftliche Schamhaftig- aus K 4
Zweites Waͤldchen. zulachen ſchienen; aber wie lange hat man ſchon dieKunſt in die Stelle der Natur geſetzt, und menſchliche Verabredungen zu Naturtrieben erhoben? Wie lan- ge aber, frage ich weiter, hat es nicht auch halbklu- ge Spoͤtter gegeben, die, da ſie Etwas in ſolchen Sachen menſchlich verabredet, geſellſchaftlich einge- richtet fanden; endlich alles im Menſchen fuͤr menſchlich verabredet, fuͤr willkuͤrlich eingepflanzet, hielten. Sie beſtuͤrmten alſo auch die heiligen Ge- ſetze der Natur: ſie entweiheten alſo auch den Altar der liebenswuͤrdigſten Tugend Schamhaftigkeit: ja ſie, die frechſten Cyniker, und der Poͤbel der Epi- kureer baueten endlich der Unverſchaͤmtheit ſelbſt Al- taͤre. Wenn die Vermiſchung des Angenomme- nen mit dem Natuͤrlichen in dieſer Empfindung al- ſo weit abfuͤhren kann: ich daͤchte, ſo koͤnnte doch der Philoſoph frei unterſcheiden doͤrfen, und das Ge- ſetz des Ariſtoteles anwenden: den Juͤnglingen macht Schamhaftigkeit Ehre, den lehrenden Alten aber Schande. Jch fahre alſo fort. Die kuͤnſtliche geſellſchaftliche Schamhaftig- aus K 4
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Zweites Waͤldchen.
zulachen ſchienen; aber wie lange hat man ſchon die
Kunſt in die Stelle der Natur geſetzt, und menſchliche
Verabredungen zu Naturtrieben erhoben? Wie lan-
ge aber, frage ich weiter, hat es nicht auch halbklu-
ge Spoͤtter gegeben, die, da ſie Etwas in ſolchen
Sachen menſchlich verabredet, geſellſchaftlich einge-
richtet fanden; endlich alles im Menſchen fuͤr
menſchlich verabredet, fuͤr willkuͤrlich eingepflanzet,
hielten. Sie beſtuͤrmten alſo auch die heiligen Ge-
ſetze der Natur: ſie entweiheten alſo auch den Altar
der liebenswuͤrdigſten Tugend Schamhaftigkeit: ja
ſie, die frechſten Cyniker, und der Poͤbel der Epi-
kureer baueten endlich der Unverſchaͤmtheit ſelbſt Al-
taͤre. Wenn die Vermiſchung des Angenomme-
nen mit dem Natuͤrlichen in dieſer Empfindung al-
ſo weit abfuͤhren kann: ich daͤchte, ſo koͤnnte doch
der Philoſoph frei unterſcheiden doͤrfen, und das Ge-
ſetz des Ariſtoteles anwenden: den Juͤnglingen macht
Schamhaftigkeit Ehre, den lehrenden Alten aber
Schande. Jch fahre alſo fort.
Die kuͤnſtliche geſellſchaftliche Schamhaftig-
keit kann ſich verſchieden aͤußern: in der Sorgfalt,
ſeinen Koͤrper zu produciren: „Reinlichkeit, An-
„ſtand, u. ſ. w.„ in hundert Gebaͤrden, Worten,
Stellungen, Thaten, die, als artig, als ſchoͤn, ver-
abredet ſind: da wollen wir ſie „Anſtaͤndigkeiten,
„Artigkeiten„ nennen: gnug! ſie ſind geſellſchaftlich
gebildet. Die Empfindung daruͤber ſtieg nicht
aus
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