Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Kritische Wälder. gen des gesellschaftlichen Wohlstandes, wo man eineArt von Verweise befürchtet, oder sich selbst giebt. Ein Kind hält seine Kleider schmutzig, seine Strümpfe nachläßig, seine Haare unordentlich. "Schäme dich!" ist der allgemeine Zuruf der Mutter; und das Kind, insonderheit das Mäd- chen, lernt sich im Ernste schämen. Es lernt, sich schämen, und mußte es lernen: denn, als Naturem- pfindung, lag solche Schaam nicht in ihm. Sie lernte sie blos aus dem Worte: von da stieg sie ins Ohr, in die Seele, und zur Gesellschaft auch auf die Wangen: mit dem Worte ward endlich auch der Begriff, mit dem Begriffe die Empfin- dung selbst geläufig. An sich immer ein gesellschaft- lich nothwendiger Begriff, eine gesellschaftlich vor- treffliche Empfindung; nur nenne man sie immer lieber ein erworbnes Gefühl des geselligen Anstan- des; oder soll sie ja Scham heißen, so mag man sie, als eine gesellschaftlich formirte Schamempfindung, betrachten, mit dem Gefühle in uns, so wie es aus den Händen der Natur kam, eigentlich nicht Ei- nerlei. Unser Sprachgebrauch, und, was noch ärger ist, [verlorenes Material - Zeichen fehlt]
Kritiſche Waͤlder. gen des geſellſchaftlichen Wohlſtandes, wo man eineArt von Verweiſe befuͤrchtet, oder ſich ſelbſt giebt. Ein Kind haͤlt ſeine Kleider ſchmutzig, ſeine Struͤmpfe nachlaͤßig, ſeine Haare unordentlich. „Schaͤme dich!„ iſt der allgemeine Zuruf der Mutter; und das Kind, inſonderheit das Maͤd- chen, lernt ſich im Ernſte ſchaͤmen. Es lernt, ſich ſchaͤmen, und mußte es lernen: denn, als Naturem- pfindung, lag ſolche Schaam nicht in ihm. Sie lernte ſie blos aus dem Worte: von da ſtieg ſie ins Ohr, in die Seele, und zur Geſellſchaft auch auf die Wangen: mit dem Worte ward endlich auch der Begriff, mit dem Begriffe die Empfin- dung ſelbſt gelaͤufig. An ſich immer ein geſellſchaft- lich nothwendiger Begriff, eine geſellſchaftlich vor- treffliche Empfindung; nur nenne man ſie immer lieber ein erworbnes Gefuͤhl des geſelligen Anſtan- des; oder ſoll ſie ja Scham heißen, ſo mag man ſie, als eine geſellſchaftlich formirte Schamempfindung, betrachten, mit dem Gefuͤhle in uns, ſo wie es aus den Haͤnden der Natur kam, eigentlich nicht Ei- nerlei. Unſer Sprachgebrauch, und, was noch aͤrger iſt, [verlorenes Material – Zeichen fehlt]
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Kritiſche Waͤlder.
gen des geſellſchaftlichen Wohlſtandes, wo man eine
Art von Verweiſe befuͤrchtet, oder ſich ſelbſt giebt.
Ein Kind haͤlt ſeine Kleider ſchmutzig, ſeine
Struͤmpfe nachlaͤßig, ſeine Haare unordentlich.
„Schaͤme dich!„ iſt der allgemeine Zuruf der
Mutter; und das Kind, inſonderheit das Maͤd-
chen, lernt ſich im Ernſte ſchaͤmen. Es lernt, ſich
ſchaͤmen, und mußte es lernen: denn, als Naturem-
pfindung, lag ſolche Schaam nicht in ihm. Sie
lernte ſie blos aus dem Worte: von da ſtieg ſie
ins Ohr, in die Seele, und zur Geſellſchaft auch
auf die Wangen: mit dem Worte ward endlich
auch der Begriff, mit dem Begriffe die Empfin-
dung ſelbſt gelaͤufig. An ſich immer ein geſellſchaft-
lich nothwendiger Begriff, eine geſellſchaftlich vor-
treffliche Empfindung; nur nenne man ſie immer
lieber ein erworbnes Gefuͤhl des geſelligen Anſtan-
des; oder ſoll ſie ja Scham heißen, ſo mag man ſie,
als eine geſellſchaftlich formirte Schamempfindung,
betrachten, mit dem Gefuͤhle in uns, ſo wie es aus
den Haͤnden der Natur kam, eigentlich nicht Ei-
nerlei.
Unſer Sprachgebrauch, und, was noch aͤrger iſt,
unſre gemeine Erziehung verwechſelt ſie: man lernt
ſich von Jugend auf uͤber eine widrige Wahl der _
dungsfarben, uͤber unmodiſche Stuͤcke des An_
uͤber misrathne Komplimente ſchaͤmen, bis zur _
ſchaͤmen, ſich ſchaͤmen, als ob uns die Steine a_
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