Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Kritische Wälder Wie nun? Jsts wohl so leicht, Homer zu ta- Homers Sprache ist nicht die unsre. Er sang; wenig-
Kritiſche Waͤlder Wie nun? Jſts wohl ſo leicht, Homer zu ta- Homers Sprache iſt nicht die unſre. Er ſang; wenig-
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Kritiſche Waͤlder
Wie nun? Jſts wohl ſo leicht, Homer zu ta-
deln? ich meyne ſo leicht fuͤr uns, in unſrer Zeit,
Denkart und Sprache? Es ſollte ſcheinen. Denn
ſind wir nicht in Gelehrſamkeit und Wiſſenſchaft,
und Stuffe der Cultur ungleich hoͤher, als das Zeit-
alter Homers? Jſt die Welt nicht drei tauſend Jahr
aͤlter, und alſo auch vielleicht drei tauſendmal erfahr-
ner und kluͤger geworden? Kniet alſo nicht der Alt-
vater Homer vor dem Geſchmacke und Urtheile un-
ſers Zeitalters, wie vor dem Tribunal des juͤngſten
Gerichts? Und wie denn nicht vor einem Vorſitzer
und geheimen Rathe deſſelben? Jch ſollte faſt glau-
ben! oder beinahe nicht glauben: denn unſer Jahr-
hundert mag in allem, was Gelehrſamkeit heißt,
ſo hoch gekommen ſeyn, als es will und iſt; ſo iſts
doch in allem, was zur poetiſchen Beurtheilung
Homers gehoͤrt, nicht hoͤher; ja ich behaupte, daß
es hierinn dem Jahrhunderte geborner Griechen, die
Homers Zeitgenoſſen, oder wenigſtens Landsleute
und Bruͤder einer Sprache mit ihm waren, weit
hinten nach ſey. Wir ſind nicht nur nicht hoͤher hin-
auf, wir ſind gewiſſer maßen aus der Welt
hinaus geruͤckt, in der Homer dichtete, ſchilderte
und ſang.
Homers Sprache iſt nicht die unſre. Er ſang;
da dieſelbe noch blos in dem Munde der artikulirt
ſprechenden Menſchen, wie er ſie nennet, lebte, noch
keine Buͤcher, noch keine grammatiſche, und am
wenig-
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