Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Kritische Wälder. so mehr zur Schau stellen, und wehe dem! der als-denn nicht auch gefärbtes Glas hat. Je weniger man vielleicht eine Tugend inne hat, desto mehr wird man sich vielleicht im Kanzleistyle dieser Tu- gend üben: je unzüchtiger man denkt, desto mehr vielleicht die Keuschheit seines Ohrs schonen, desto ekler, desto wähliger und üppiger in der Wortwür- de werden; desto eher nach Zweideutigkeiten ha- schen. Wer diese am besten kennet, wer diese in ei- ner Gesellschaft zuerst, und vielleicht einzig und allein, aufmerkt, und darüber anständig erröthet, und artig darüber in Unwillen geräth -- artig, freilich artig und anständig ist dieser schamhafte Un- wille, ob aber auch deßwegen wirklich und nothwen- dig, eine Schamröthe der unwissenden Unschuld, der unwilligen Tugend? Nicht nothwendig! Jch habe blos den Unterschied der Begriffe, ling
Kritiſche Waͤlder. ſo mehr zur Schau ſtellen, und wehe dem! der als-denn nicht auch gefaͤrbtes Glas hat. Je weniger man vielleicht eine Tugend inne hat, deſto mehr wird man ſich vielleicht im Kanzleiſtyle dieſer Tu- gend uͤben: je unzuͤchtiger man denkt, deſto mehr vielleicht die Keuſchheit ſeines Ohrs ſchonen, deſto ekler, deſto waͤhliger und uͤppiger in der Wortwuͤr- de werden; deſto eher nach Zweideutigkeiten ha- ſchen. Wer dieſe am beſten kennet, wer dieſe in ei- ner Geſellſchaft zuerſt, und vielleicht einzig und allein, aufmerkt, und daruͤber anſtaͤndig erroͤthet, und artig daruͤber in Unwillen geraͤth — artig, freilich artig und anſtaͤndig iſt dieſer ſchamhafte Un- wille, ob aber auch deßwegen wirklich und nothwen- dig, eine Schamroͤthe der unwiſſenden Unſchuld, der unwilligen Tugend? Nicht nothwendig! Jch habe blos den Unterſchied der Begriffe, ling
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Kritiſche Waͤlder.
ſo mehr zur Schau ſtellen, und wehe dem! der als-
denn nicht auch gefaͤrbtes Glas hat. Je weniger
man vielleicht eine Tugend inne hat, deſto mehr
wird man ſich vielleicht im Kanzleiſtyle dieſer Tu-
gend uͤben: je unzuͤchtiger man denkt, deſto mehr
vielleicht die Keuſchheit ſeines Ohrs ſchonen, deſto
ekler, deſto waͤhliger und uͤppiger in der Wortwuͤr-
de werden; deſto eher nach Zweideutigkeiten ha-
ſchen. Wer dieſe am beſten kennet, wer dieſe in ei-
ner Geſellſchaft zuerſt, und vielleicht einzig und
allein, aufmerkt, und daruͤber anſtaͤndig erroͤthet,
und artig daruͤber in Unwillen geraͤth — artig,
freilich artig und anſtaͤndig iſt dieſer ſchamhafte Un-
wille, ob aber auch deßwegen wirklich und nothwen-
dig, eine Schamroͤthe der unwiſſenden Unſchuld,
der unwilligen Tugend? Nicht nothwendig!
Jch habe blos den Unterſchied der Begriffe,
zwiſchen Naturempfindung, geſellſchaftlicher und
moraliſcher Schaam entwickelt; und verhuͤlle, wie
Sokrates, da er von der Liebe dithyrambiſirte, mein
Geſicht, um keiner von dreien zu nahe zu treten.
Nur eben aus Verehrung will ich die Naturem-
pfindung nicht mit Coquetterie, und die ſchoͤnſte der
Tugenden nicht mit ihrer Nachaͤfferinn der unzuͤch-
tigen Ehrbarkeitspedantinn verwechſelt haben. Viel-
leicht ſind Leſer, die auch die Erſte von dreien fuͤr
einen Geſellſchaftstrieb halten, denen widerſpreche
ich nicht; ſie iſt aber alsdenn wenigſtens ein Zoͤg-
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