Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. der Römer, der sein Werk darauf setzet, um die er-regten Empfindungen selbst auszumalen? Der Grieche, der mit seiner poetischen Schilderung von Pracht und Schönheit der Juno, mit seiner schö- nen allegorischen Dichtung vom Gürtel der Venus, unser Auge stiehlt; oder der Römer, der es recht eigentlich auf die Liebesumarmung selbst richtet? Der Grieche, bei dem wir die edle Bildung der Juno in einer ganz unschuldigen Gelegenheit antreffen, da sie sich schmückt: oder der Römer, der uns die schneeweißen Venusarme nur alsdenn zeigt, wenn sie sich um Vulcan schlingen, wenn sie ihm den elek- trischen Funken der Liebe durch Leib und Seele ja- gen? Der Grieche, der uns die himmlische Kö- niginn in ihrem Brautgemache, nur bei verschlos- senen Thüren, entkleidet, sie nur badend, salbend, zierend zeigt, und das Uebrige unter den Gürtel der Venus verhüllet; der sie auf Jda um Nichts so lange, so angelegentlich besorgt seyn läßt, als um Verborgenheit, um nicht gesehen zu werden: be- schämt zeigt sie Zevs dem ringsum offnen Jda: schamhaft bezeuget sie, wie, wenn sie von andern belauschet würden, sie keinem Gotte unter die Augen würde treten könnnen: züchtig schlägt sie ihm sein Ehebette, seine Schlafkammer vor: sie läßt sich nicht anders, als durch die dickste goldene Wolke si- cher machen: der Römer überhebt seine Venus al- ler dieser Besorglichkeiten: ungestört fängt sie ihr Liebes- M 2
Zweites Waͤldchen. der Roͤmer, der ſein Werk darauf ſetzet, um die er-regten Empfindungen ſelbſt auszumalen? Der Grieche, der mit ſeiner poetiſchen Schilderung von Pracht und Schoͤnheit der Juno, mit ſeiner ſchoͤ- nen allegoriſchen Dichtung vom Guͤrtel der Venus, unſer Auge ſtiehlt; oder der Roͤmer, der es recht eigentlich auf die Liebesumarmung ſelbſt richtet? Der Grieche, bei dem wir die edle Bildung der Juno in einer ganz unſchuldigen Gelegenheit antreffen, da ſie ſich ſchmuͤckt: oder der Roͤmer, der uns die ſchneeweißen Venusarme nur alsdenn zeigt, wenn ſie ſich um Vulcan ſchlingen, wenn ſie ihm den elek- triſchen Funken der Liebe durch Leib und Seele ja- gen? Der Grieche, der uns die himmliſche Koͤ- niginn in ihrem Brautgemache, nur bei verſchloſ- ſenen Thuͤren, entkleidet, ſie nur badend, ſalbend, zierend zeigt, und das Uebrige unter den Guͤrtel der Venus verhuͤllet; der ſie auf Jda um Nichts ſo lange, ſo angelegentlich beſorgt ſeyn laͤßt, als um Verborgenheit, um nicht geſehen zu werden: be- ſchaͤmt zeigt ſie Zevs dem ringsum offnen Jda: ſchamhaft bezeuget ſie, wie, wenn ſie von andern belauſchet wuͤrden, ſie keinem Gotte unter die Augen wuͤrde treten koͤnnnen: zuͤchtig ſchlaͤgt ſie ihm ſein Ehebette, ſeine Schlafkammer vor: ſie laͤßt ſich nicht anders, als durch die dickſte goldene Wolke ſi- cher machen: der Roͤmer uͤberhebt ſeine Venus al- ler dieſer Beſorglichkeiten: ungeſtoͤrt faͤngt ſie ihr Liebes- M 2
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Zweites Waͤldchen.
der Roͤmer, der ſein Werk darauf ſetzet, um die er-
regten Empfindungen ſelbſt auszumalen? Der
Grieche, der mit ſeiner poetiſchen Schilderung von
Pracht und Schoͤnheit der Juno, mit ſeiner ſchoͤ-
nen allegoriſchen Dichtung vom Guͤrtel der Venus,
unſer Auge ſtiehlt; oder der Roͤmer, der es recht
eigentlich auf die Liebesumarmung ſelbſt richtet?
Der Grieche, bei dem wir die edle Bildung der Juno
in einer ganz unſchuldigen Gelegenheit antreffen,
da ſie ſich ſchmuͤckt: oder der Roͤmer, der uns die
ſchneeweißen Venusarme nur alsdenn zeigt, wenn
ſie ſich um Vulcan ſchlingen, wenn ſie ihm den elek-
triſchen Funken der Liebe durch Leib und Seele ja-
gen? Der Grieche, der uns die himmliſche Koͤ-
niginn in ihrem Brautgemache, nur bei verſchloſ-
ſenen Thuͤren, entkleidet, ſie nur badend, ſalbend,
zierend zeigt, und das Uebrige unter den Guͤrtel der
Venus verhuͤllet; der ſie auf Jda um Nichts ſo
lange, ſo angelegentlich beſorgt ſeyn laͤßt, als um
Verborgenheit, um nicht geſehen zu werden: be-
ſchaͤmt zeigt ſie Zevs dem ringsum offnen Jda:
ſchamhaft bezeuget ſie, wie, wenn ſie von andern
belauſchet wuͤrden, ſie keinem Gotte unter die Augen
wuͤrde treten koͤnnnen: zuͤchtig ſchlaͤgt ſie ihm ſein
Ehebette, ſeine Schlafkammer vor: ſie laͤßt ſich
nicht anders, als durch die dickſte goldene Wolke ſi-
cher machen: der Roͤmer uͤberhebt ſeine Venus al-
ler dieſer Beſorglichkeiten: ungeſtoͤrt faͤngt ſie ihr
Liebes-
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