Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. Widerspruch! eine unerhörte sich selbst strafendeLüge: denn wo hat Sokrates so geliebt? Aber, was schadet das? ein man sagt; ein fama est! kann schon Etwas bei dem Pöbelleser zur Noth zudecken; und für wen andern werden Anekdoten fabricirt? So war eine Lüge, eine widersinnige Lüge fertig: widersinnig, denn welcher Mensch, der bei sich selbst ist, wird ohne Rücksicht beides glauben können, eum libidinis pronioris in pueros fuisse, und doch eum amasse vt Socrates -- und doch vita et ani- mo probum fuisse. So wenig ich mir von der Sittlichkeit der damaligen Römerwelt große Be- griffe mache: so kann der Widerspruch doch in sich selbst nicht Statt finden. Er ist Chikane, er ist Verläumdung, Verdrehung eines alten gutherzigen Autors. Woher aber die Knaben, die man ihm unter- selben N
Zweites Waͤldchen. Widerſpruch! eine unerhoͤrte ſich ſelbſt ſtrafendeLuͤge: denn wo hat Sokrates ſo geliebt? Aber, was ſchadet das? ein man ſagt; ein fama eſt! kann ſchon Etwas bei dem Poͤbelleſer zur Noth zudecken; und fuͤr wen andern werden Anekdoten fabricirt? So war eine Luͤge, eine widerſinnige Luͤge fertig: widerſinnig, denn welcher Menſch, der bei ſich ſelbſt iſt, wird ohne Ruͤckſicht beides glauben koͤnnen, eum libidinis pronioris in pueros fuiſſe, und doch eum amaſſe vt Socrates — und doch vita et ani- mo probum fuiſſe. So wenig ich mir von der Sittlichkeit der damaligen Roͤmerwelt große Be- griffe mache: ſo kann der Widerſpruch doch in ſich ſelbſt nicht Statt finden. Er iſt Chikane, er iſt Verlaͤumdung, Verdrehung eines alten gutherzigen Autors. Woher aber die Knaben, die man ihm unter- ſelben N
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Zweites Waͤldchen.
Widerſpruch! eine unerhoͤrte ſich ſelbſt ſtrafende
Luͤge: denn wo hat Sokrates ſo geliebt? Aber, was
ſchadet das? ein man ſagt; ein fama eſt! kann
ſchon Etwas bei dem Poͤbelleſer zur Noth zudecken;
und fuͤr wen andern werden Anekdoten fabricirt?
So war eine Luͤge, eine widerſinnige Luͤge fertig:
widerſinnig, denn welcher Menſch, der bei ſich ſelbſt
iſt, wird ohne Ruͤckſicht beides glauben koͤnnen,
eum libidinis pronioris in pueros fuiſſe, und doch
eum amaſſe vt Socrates — und doch vita et ani-
mo probum fuiſſe. So wenig ich mir von der
Sittlichkeit der damaligen Roͤmerwelt große Be-
griffe mache: ſo kann der Widerſpruch doch in ſich
ſelbſt nicht Statt finden. Er iſt Chikane, er iſt
Verlaͤumdung, Verdrehung eines alten gutherzigen
Autors.
Woher aber die Knaben, die man ihm unter-
ſchob? Was weiß ich das? Gnug! Apulejus hatte
den Namen Alexis fuͤr einen erdichteten Namen
angegeben, und nun konnte unter ihm was eher, als
ein Alexander, verborgen liegen, der nur ins Sylben-
maaß nicht konnte? Nur noch ein Cebes, eine
Plotia Hieria, oder Leria, oder Aleria, oder wie
man die Aelia Laͤlia Criſpis nennen wolle, dazu,
und die Tradition iſt zum voͤlligen Maͤrchen gewor-
den. Wie anders, als daß jetzt jeder gruͤndliche
Ausleger der Coridonsekloge ſolche artige Erlaͤute-
rung nicht auslaſſen kann? Er laſſe lieber, um der-
ſelben
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