Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. Jch betrachte Homer blos, als den glücklich- Na- B 2
Zweites Waͤldchen. Jch betrachte Homer blos, als den gluͤcklich- Na- B 2
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Zweites Waͤldchen.
Jch betrachte Homer blos, als den gluͤcklich-
ſten poetiſchen Kopf ſeines Jahrhunderts, ſeiner
Nation, dem keiner von allen, die ihn nachahmen
wollten, gleich kommen konnte; aber die Anlagen
zu ſeinem gluͤcklichen Genie ſuche ich nicht außer ſei-
ner Natur, und dem Zeitalter, das ihn bildete. Je
mehr ich dieſes kennen lerne, deſto mehr lerne ich
mir Homer erklaͤren, und deſto mehr ſchwindet der
Gedanke, ihn, „als einen Dichter aller Zeiten und
„Voͤlker,„ nach dem Buͤrgerrechte meiner Zeit
und Nation, zu beurtheilen. Nur gar zu ſehr ha-
be ichs gelernt, wie weit wir in einem Zeitraume
zweier Jahrtauſende von der poetiſchen Natur ab-
gekommen, eine gleichſam buͤrgerliche Seele erhalten,
wie wenig, nach den Eindruͤcken unſrer Erziehung,
griechiſche Natur in uns wirke! wie weit Juden
und Chriſten uns umgebildet haben, um nicht aus
eingepflanzten Begriffen der Mythologie auch uͤber
Homers Goͤtter zu denken! wie weit Morgenlaͤnder,
Roͤmer, Franzoſen, Britten, Jtaliener und Deut-
ſche, wenn ich den rouſſeauſchen Ausdruck wagen
darf, unſer Gehirn von der griechiſchen Denkart
weggebildet haben moͤgen, wenn wir uͤber die Wuͤr-
de der menſchlichen Natur, uͤber Heldengroͤße, uͤber
die Ernſthaftigkeit der Epopee, uͤber Zucht und An-
ſtand denken! Wie gelehrt muß alſo ein Auge ſeyn,
um Homer ganz in der Tracht ſeines Zeitalters ſe-
hen: wie gelehrt ein Ohr, ihn in der Sprache ſeiner
Na-
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