Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Kritische Wälder. mit den Ebräern ein Ebräer, mit den Arabern einAraber, mit den Skalden ein Skalde, mit den Barden ein Barde, wesentlich, und durch eine Um- wandlung meiner selbst geworden bin, um Moses und Hiob, und Ossian in ihrer Zeit und Natur zu fühlen: so lange zittere ich vor dem Urtheile: "Ho- "mer ist die höchste Maße gesammelter Kräfte des "poetischen Geistes, das höchste Maaß der dichte- "rischen Natur." Und ist schon bei Einer einzi- gen Seite der Natur, und des menschlichen Geistes, als dichterisches Genie ist, ist da dies Urtheil schon so schwer: wie kann ich den Umfang gesammter Gei- steskräfte, das Maaß der ganzen Menschennatur in ihm berechnen! Wo weiß ich, ob die Natur bei Bildung eines Alcibiades und Perikles, und Demosthenes, als Geschöpfe ihrer Zeit, betrachtet, sich nicht mehr erschöpft, als bei Homer? Wo weiß ich, ob ein Plato, ein Baco, ein Newton, -- -- das Ziel erschaffner Geister, dieser bildenden Mutter nicht mehr in ihrer Art ge- Jch
Kritiſche Waͤlder. mit den Ebraͤern ein Ebraͤer, mit den Arabern einAraber, mit den Skalden ein Skalde, mit den Barden ein Barde, weſentlich, und durch eine Um- wandlung meiner ſelbſt geworden bin, um Moſes und Hiob, und Oſſian in ihrer Zeit und Natur zu fuͤhlen: ſo lange zittere ich vor dem Urtheile: „Ho- „mer iſt die hoͤchſte Maße geſammelter Kraͤfte des „poetiſchen Geiſtes, das hoͤchſte Maaß der dichte- „riſchen Natur.„ Und iſt ſchon bei Einer einzi- gen Seite der Natur, und des menſchlichen Geiſtes, als dichteriſches Genie iſt, iſt da dies Urtheil ſchon ſo ſchwer: wie kann ich den Umfang geſammter Gei- ſteskraͤfte, das Maaß der ganzen Menſchennatur in ihm berechnen! Wo weiß ich, ob die Natur bei Bildung eines Alcibiades und Perikles, und Demoſthenes, als Geſchoͤpfe ihrer Zeit, betrachtet, ſich nicht mehr erſchoͤpft, als bei Homer? Wo weiß ich, ob ein Plato, ein Baco, ein Newton, — — das Ziel erſchaffner Geiſter, dieſer bildenden Mutter nicht mehr in ihrer Art ge- Jch
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Kritiſche Waͤlder.
mit den Ebraͤern ein Ebraͤer, mit den Arabern ein
Araber, mit den Skalden ein Skalde, mit den
Barden ein Barde, weſentlich, und durch eine Um-
wandlung meiner ſelbſt geworden bin, um Moſes
und Hiob, und Oſſian in ihrer Zeit und Natur zu
fuͤhlen: ſo lange zittere ich vor dem Urtheile: „Ho-
„mer iſt die hoͤchſte Maße geſammelter Kraͤfte des
„poetiſchen Geiſtes, das hoͤchſte Maaß der dichte-
„riſchen Natur.„ Und iſt ſchon bei Einer einzi-
gen Seite der Natur, und des menſchlichen Geiſtes,
als dichteriſches Genie iſt, iſt da dies Urtheil ſchon ſo
ſchwer: wie kann ich den Umfang geſammter Gei-
ſteskraͤfte, das Maaß der ganzen Menſchennatur
in ihm berechnen! Wo weiß ich, ob die Natur
bei Bildung eines Alcibiades und Perikles, und
Demoſthenes, als Geſchoͤpfe ihrer Zeit, betrachtet,
ſich nicht mehr erſchoͤpft, als bei Homer? Wo
weiß ich, ob ein Plato, ein Baco, ein Newton,
— — das Ziel erſchaffner Geiſter,
dieſer bildenden Mutter nicht mehr in ihrer Art ge-
koſtet, als Homer in der ſeinigen? Ein ſolcher Lob-
ſpruch geht ins Ungeheure; und wenn Homer ſum-
ma vis, & quaſi menſura ingenii humani iſt, ſo
wird der, ſo ihn noch beurtheilen und tadeln kann,
ein voͤlliger Uebermenſch! hervorragend uͤber die
Schranken des menſchlichen Geiſtes. Da trete ich
zuruͤck, um den kritiſchen Gott anzubeten.
Jch
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