Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. immer der kälteste. Solche Bilderchen an sich sindSpielwerk: so hinter einander gestellt, wer mag sie lesen? Er ist auch sehr unsicher. Der epische Dich- ter giebt seinem Gedanken ein episches, der lyrische ein lyrisches, der dramatische ein dramatisches Ge- wand: jede Zeit, jede Sprache, jeder Zweck giebt dem Bilde wieder seine eigne Farbe. Nun flicke ein belesener Mann von Geschmacke eine Reihe sol- cher Bilder ohne Absicht und Zweck an einander -- ein Bettlerrock! ein Harlekinsputz! Er ist auch sel- ten weder erläuternd, noch poetisch. Jch könnte Beispiele geben, wie weit man uns mit solchem Ge- schmacke wegerläutern, und vom Tone des Poeten fortleiten könne. Man wird nie das Ganze eines D chters, eines Gedichts recht innig fühlen, recht mit seiner Seele verfolgen, wenn man an Stellen klebt. Mitten im Sonnenlichte wird man blind, wenn man mit einer Menge Lichter, Lampen, Fa- ckeln, Kerzen kommt, unter dem Vorwande, daß ei- ne Reihe solcher Blendwerke hinter einander doch recht schön lasse. Recht schön für den, der Lust hat. Noch weniger kann ein Genie mit der geschmacks- ihn Q 3
Zweites Waͤldchen. immer der kaͤlteſte. Solche Bilderchen an ſich ſindSpielwerk: ſo hinter einander geſtellt, wer mag ſie leſen? Er iſt auch ſehr unſicher. Der epiſche Dich- ter giebt ſeinem Gedanken ein epiſches, der lyriſche ein lyriſches, der dramatiſche ein dramatiſches Ge- wand: jede Zeit, jede Sprache, jeder Zweck giebt dem Bilde wieder ſeine eigne Farbe. Nun flicke ein beleſener Mann von Geſchmacke eine Reihe ſol- cher Bilder ohne Abſicht und Zweck an einander — ein Bettlerrock! ein Harlekinsputz! Er iſt auch ſel- ten weder erlaͤuternd, noch poetiſch. Jch koͤnnte Beiſpiele geben, wie weit man uns mit ſolchem Ge- ſchmacke wegerlaͤutern, und vom Tone des Poeten fortleiten koͤnne. Man wird nie das Ganze eines D chters, eines Gedichts recht innig fuͤhlen, recht mit ſeiner Seele verfolgen, wenn man an Stellen klebt. Mitten im Sonnenlichte wird man blind, wenn man mit einer Menge Lichter, Lampen, Fa- ckeln, Kerzen kommt, unter dem Vorwande, daß ei- ne Reihe ſolcher Blendwerke hinter einander doch recht ſchoͤn laſſe. Recht ſchoͤn fuͤr den, der Luſt hat. Noch weniger kann ein Genie mit der geſchmacks- ihn Q 3
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Zweites Waͤldchen.
immer der kaͤlteſte. Solche Bilderchen an ſich ſind
Spielwerk: ſo hinter einander geſtellt, wer mag ſie
leſen? Er iſt auch ſehr unſicher. Der epiſche Dich-
ter giebt ſeinem Gedanken ein epiſches, der lyriſche
ein lyriſches, der dramatiſche ein dramatiſches Ge-
wand: jede Zeit, jede Sprache, jeder Zweck giebt
dem Bilde wieder ſeine eigne Farbe. Nun flicke
ein beleſener Mann von Geſchmacke eine Reihe ſol-
cher Bilder ohne Abſicht und Zweck an einander —
ein Bettlerrock! ein Harlekinsputz! Er iſt auch ſel-
ten weder erlaͤuternd, noch poetiſch. Jch koͤnnte
Beiſpiele geben, wie weit man uns mit ſolchem Ge-
ſchmacke wegerlaͤutern, und vom Tone des Poeten
fortleiten koͤnne. Man wird nie das Ganze eines
D chters, eines Gedichts recht innig fuͤhlen, recht
mit ſeiner Seele verfolgen, wenn man an Stellen
klebt. Mitten im Sonnenlichte wird man blind,
wenn man mit einer Menge Lichter, Lampen, Fa-
ckeln, Kerzen kommt, unter dem Vorwande, daß ei-
ne Reihe ſolcher Blendwerke hinter einander doch
recht ſchoͤn laſſe. Recht ſchoͤn fuͤr den, der Luſt hat.
Noch weniger kann ein Genie mit der geſchmacks-
vollen Erklaͤrungsmethode zufrieden ſeyn, die ich
den edlen Gemmengeſchmack nennen will. Jch lobe
die ſtillen, die edlen Verdienſte eines Lipperts um
den Geſchmack an den Antiken in Deutſchland;
aber Hr. Kl. ſollte kaum der Lobredner deſſelben ſeyn:
durch das Beiſpiel ſeines eignen Gebrauchs lobt er
ihn
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Zitationshilfe: | Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/251>, abgerufen am 16.02.2025. |