Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.

Bild:
<< vorherige Seite

Kritische Wälder.
"derheit da er, der Umschweife wegen, eine Stelle,
"ein Bild zwei, drei, viermal hören mußte.

"So wie aber bei solcher Zerstückung und
"Zertheilung der Begriff der Sache verlohren
"geht: so ermattet, oder erlöschet auch die Lust zu
"lesen, die sonst vorzüglich dadurch erhalten und
"angefeuert wird, daß wir zu Ende eilen, daß wir
"den ganzen Verlauf zu wissen verlangen. Schon
"dieser Reiz macht, daß Leute, die sonst übrigens
"keine Lesesucht haben, einen Telemach, Robinson,
"Gulliver gleichsam verschlingen, und sie nicht weg-
"legen, ehe sie zu Ende sind; einen Homer, Virgil,
"Plautus, Terenz, Ovid, Sueton, Curtius hinge-
"gen, eben so angenehme Schriftsteller, erregen der
"Jugend Schauder, weil sie nie ein beträchtliches
"Stück, gleichsam in einem Othem weglieset, um
"vom ganzen Körper zu urtheilen, um durch die
"Erwartung des endlichen Ausfalles angefrischt zu
"werden. -- --

"Und gewiß durch ein so stätiges, mühsames
"und ängstliches Lesen wird man kaum die Alten
"verstehen lernen. Wenige Worte haben einen so
"gewissen und bestimmten Sinn, daß sie überall Ei-
"nerlei bedeuten: aus der Nachbarschaft, aus dem
"Zusammenhange der ganzen Rede, aus der Reihe
"der Sachen, bekommen sie ihren Werth; anderswo,
"im Munde andrer Personen, in andrer Materie

"bedeu-

Kritiſche Waͤlder.
„derheit da er, der Umſchweife wegen, eine Stelle,
„ein Bild zwei, drei, viermal hoͤren mußte.

„So wie aber bei ſolcher Zerſtuͤckung und
„Zertheilung der Begriff der Sache verlohren
„geht: ſo ermattet, oder erloͤſchet auch die Luſt zu
„leſen, die ſonſt vorzuͤglich dadurch erhalten und
„angefeuert wird, daß wir zu Ende eilen, daß wir
„den ganzen Verlauf zu wiſſen verlangen. Schon
„dieſer Reiz macht, daß Leute, die ſonſt uͤbrigens
„keine Leſeſucht haben, einen Telemach, Robinſon,
„Gulliver gleichſam verſchlingen, und ſie nicht weg-
„legen, ehe ſie zu Ende ſind; einen Homer, Virgil,
„Plautus, Terenz, Ovid, Sueton, Curtius hinge-
„gen, eben ſo angenehme Schriftſteller, erregen der
„Jugend Schauder, weil ſie nie ein betraͤchtliches
„Stuͤck, gleichſam in einem Othem weglieſet, um
„vom ganzen Koͤrper zu urtheilen, um durch die
„Erwartung des endlichen Ausfalles angefriſcht zu
„werden. — —

„Und gewiß durch ein ſo ſtaͤtiges, muͤhſames
„und aͤngſtliches Leſen wird man kaum die Alten
„verſtehen lernen. Wenige Worte haben einen ſo
„gewiſſen und beſtimmten Sinn, daß ſie uͤberall Ei-
„nerlei bedeuten: aus der Nachbarſchaft, aus dem
„Zuſammenhange der ganzen Rede, aus der Reihe
„der Sachen, bekommen ſie ihren Werth; anderswo,
„im Munde andrer Perſonen, in andrer Materie

„bedeu-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0258" n="252"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Kriti&#x017F;che Wa&#x0364;lder.</hi></fw><lb/>
&#x201E;derheit da er, der Um&#x017F;chweife wegen, eine Stelle,<lb/>
&#x201E;ein Bild zwei, drei, viermal ho&#x0364;ren mußte.</p><lb/>
          <p>&#x201E;So wie aber bei &#x017F;olcher Zer&#x017F;tu&#x0364;ckung und<lb/>
&#x201E;Zertheilung der Begriff der Sache verlohren<lb/>
&#x201E;geht: &#x017F;o ermattet, oder erlo&#x0364;&#x017F;chet auch die Lu&#x017F;t zu<lb/>
&#x201E;le&#x017F;en, die &#x017F;on&#x017F;t vorzu&#x0364;glich dadurch erhalten und<lb/>
&#x201E;angefeuert wird, daß wir zu Ende eilen, daß wir<lb/>
&#x201E;den ganzen Verlauf zu wi&#x017F;&#x017F;en verlangen. Schon<lb/>
&#x201E;die&#x017F;er Reiz macht, daß Leute, die &#x017F;on&#x017F;t u&#x0364;brigens<lb/>
&#x201E;keine Le&#x017F;e&#x017F;ucht haben, einen Telemach, Robin&#x017F;on,<lb/>
&#x201E;Gulliver gleich&#x017F;am ver&#x017F;chlingen, und &#x017F;ie nicht weg-<lb/>
&#x201E;legen, ehe &#x017F;ie zu Ende &#x017F;ind; einen Homer, Virgil,<lb/>
&#x201E;Plautus, Terenz, Ovid, Sueton, Curtius hinge-<lb/>
&#x201E;gen, eben &#x017F;o angenehme Schrift&#x017F;teller, erregen der<lb/>
&#x201E;Jugend Schauder, weil &#x017F;ie nie ein betra&#x0364;chtliches<lb/>
&#x201E;Stu&#x0364;ck, gleich&#x017F;am in einem Othem weglie&#x017F;et, um<lb/>
&#x201E;vom ganzen Ko&#x0364;rper zu urtheilen, um durch die<lb/>
&#x201E;Erwartung des endlichen Ausfalles angefri&#x017F;cht zu<lb/>
&#x201E;werden. &#x2014; &#x2014;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Und gewiß durch ein &#x017F;o &#x017F;ta&#x0364;tiges, mu&#x0364;h&#x017F;ames<lb/>
&#x201E;und a&#x0364;ng&#x017F;tliches Le&#x017F;en wird man kaum die Alten<lb/>
&#x201E;ver&#x017F;tehen lernen. Wenige Worte haben einen &#x017F;o<lb/>
&#x201E;gewi&#x017F;&#x017F;en und be&#x017F;timmten Sinn, daß &#x017F;ie u&#x0364;berall Ei-<lb/>
&#x201E;nerlei bedeuten: aus der Nachbar&#x017F;chaft, aus dem<lb/>
&#x201E;Zu&#x017F;ammenhange der ganzen Rede, aus der Reihe<lb/>
&#x201E;der Sachen, bekommen &#x017F;ie ihren Werth; anderswo,<lb/>
&#x201E;im Munde andrer Per&#x017F;onen, in andrer Materie<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;bedeu-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[252/0258] Kritiſche Waͤlder. „derheit da er, der Umſchweife wegen, eine Stelle, „ein Bild zwei, drei, viermal hoͤren mußte. „So wie aber bei ſolcher Zerſtuͤckung und „Zertheilung der Begriff der Sache verlohren „geht: ſo ermattet, oder erloͤſchet auch die Luſt zu „leſen, die ſonſt vorzuͤglich dadurch erhalten und „angefeuert wird, daß wir zu Ende eilen, daß wir „den ganzen Verlauf zu wiſſen verlangen. Schon „dieſer Reiz macht, daß Leute, die ſonſt uͤbrigens „keine Leſeſucht haben, einen Telemach, Robinſon, „Gulliver gleichſam verſchlingen, und ſie nicht weg- „legen, ehe ſie zu Ende ſind; einen Homer, Virgil, „Plautus, Terenz, Ovid, Sueton, Curtius hinge- „gen, eben ſo angenehme Schriftſteller, erregen der „Jugend Schauder, weil ſie nie ein betraͤchtliches „Stuͤck, gleichſam in einem Othem weglieſet, um „vom ganzen Koͤrper zu urtheilen, um durch die „Erwartung des endlichen Ausfalles angefriſcht zu „werden. — — „Und gewiß durch ein ſo ſtaͤtiges, muͤhſames „und aͤngſtliches Leſen wird man kaum die Alten „verſtehen lernen. Wenige Worte haben einen ſo „gewiſſen und beſtimmten Sinn, daß ſie uͤberall Ei- „nerlei bedeuten: aus der Nachbarſchaft, aus dem „Zuſammenhange der ganzen Rede, aus der Reihe „der Sachen, bekommen ſie ihren Werth; anderswo, „im Munde andrer Perſonen, in andrer Materie „bedeu-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/258
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_kritische02_1769/258>, abgerufen am 21.11.2024.