Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 2. Riga, 1769.Zweites Wäldchen. der Bildung, Seiten der Anschauung, Ein Herzund Eine Seele mit ihm hat, wird ihn aus ganzer Seele lesen. Einem Oest, z. E. werden schon viele Vorstellungsarten thalmudisch dünken; einem christlichen Schüler des Korans werden manche aus Arabien entlehnt vorkommen: einem Foster oder Sterne in England, und auch das sind Christen! werden manche noch weit befremdender erscheinen; und endlich einem orthodoxen Christen des zwölften oder zwanzigsten Jahrhunderts? -- dessen Urtheil über den Messias möchte ich lesen. Wie? wenn nun ein solcher nach seiner Zeit fromm und selig ur- theilte? Unbilliger Richter! er sollte sich in unsre Zeit zurückzusetzen, aus ihr denken und sprechen: er sollte mehr als des Nikomachus Auge haben, um Helena anzuschauen. So wie der oberste Richter allwissend seyn muß um gleichsam die eigenthüm- liche Moralität eines jeden Herzens zu kennen: so sei (man erlaube mir die kleine Blasphemie vom Gleichnisse!) so sei der Richter über Zeiten und Völ- ker, auch des Geschmacks dieser Zeiten und Völker kundig, oder er greift blind in den Loostopf der Jahrhunderte, um nichts als ein mageres kritisches Regelchen herauszulangen. Und Milton! -- Wer Milton mit allen vo- daß a) Epist. Homer. p. 79. E
Zweites Waͤldchen. der Bildung, Seiten der Anſchauung, Ein Herzund Eine Seele mit ihm hat, wird ihn aus ganzer Seele leſen. Einem Oeſt, z. E. werden ſchon viele Vorſtellungsarten thalmudiſch duͤnken; einem chriſtlichen Schuͤler des Korans werden manche aus Arabien entlehnt vorkommen: einem Foſter oder Sterne in England, und auch das ſind Chriſten! werden manche noch weit befremdender erſcheinen; und endlich einem orthodoxen Chriſten des zwoͤlften oder zwanzigſten Jahrhunderts? — deſſen Urtheil uͤber den Meſſias moͤchte ich leſen. Wie? wenn nun ein ſolcher nach ſeiner Zeit fromm und ſelig ur- theilte? Unbilliger Richter! er ſollte ſich in unſre Zeit zuruͤckzuſetzen, aus ihr denken und ſprechen: er ſollte mehr als des Nikomachus Auge haben, um Helena anzuſchauen. So wie der oberſte Richter allwiſſend ſeyn muß um gleichſam die eigenthuͤm- liche Moralitaͤt eines jeden Herzens zu kennen: ſo ſei (man erlaube mir die kleine Blasphemie vom Gleichniſſe!) ſo ſei der Richter uͤber Zeiten und Voͤl- ker, auch des Geſchmacks dieſer Zeiten und Voͤlker kundig, oder er greift blind in den Loostopf der Jahrhunderte, um nichts als ein mageres kritiſches Regelchen herauszulangen. Und Milton! — Wer Milton mit allen vo- daß a) Epiſt. Homer. p. 79. E
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Zweites Waͤldchen.
der Bildung, Seiten der Anſchauung, Ein Herz
und Eine Seele mit ihm hat, wird ihn aus ganzer
Seele leſen. Einem Oeſt, z. E. werden ſchon viele
Vorſtellungsarten thalmudiſch duͤnken; einem
chriſtlichen Schuͤler des Korans werden manche aus
Arabien entlehnt vorkommen: einem Foſter oder
Sterne in England, und auch das ſind Chriſten!
werden manche noch weit befremdender erſcheinen;
und endlich einem orthodoxen Chriſten des zwoͤlften
oder zwanzigſten Jahrhunderts? — deſſen Urtheil
uͤber den Meſſias moͤchte ich leſen. Wie? wenn
nun ein ſolcher nach ſeiner Zeit fromm und ſelig ur-
theilte? Unbilliger Richter! er ſollte ſich in unſre
Zeit zuruͤckzuſetzen, aus ihr denken und ſprechen: er
ſollte mehr als des Nikomachus Auge haben, um
Helena anzuſchauen. So wie der oberſte Richter
allwiſſend ſeyn muß um gleichſam die eigenthuͤm-
liche Moralitaͤt eines jeden Herzens zu kennen: ſo
ſei (man erlaube mir die kleine Blasphemie vom
Gleichniſſe!) ſo ſei der Richter uͤber Zeiten und Voͤl-
ker, auch des Geſchmacks dieſer Zeiten und Voͤlker
kundig, oder er greift blind in den Loostopf der
Jahrhunderte, um nichts als ein mageres kritiſches
Regelchen herauszulangen.
Und Milton! — Wer Milton mit allen vo-
rigen Miſchern der Religionen in einen gluͤhenden
Ofen zuſammen werfen will a) hat nicht bedacht,
daß
a) Epiſt. Homer. p. 79.
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