Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769.Kritische Wälder. es wenigstens im Munde ihrer Landesmütter, imMunde ihrer Liedersänger, ihrer Dichter, ihrer Fabelschreiber. Aus dieser Blume von eigner Nationalmythologie wird mit der Zeit die Frucht reifer wahrer Geschichte, ohne wundersame Ein- pfropfungen und Bezauberungen, nach dem Laufe der Natur. Und eben das Ordentliche dieses Na- turlaufes ergänzet ungemein die Lücken der äl- testen Geschichte. Die ersten historisch dichteri- schen Mythologisten waren eine Produktion ihres Zeitalters: der Zeitgeist nahm ihnen allgemach im- mer mehr von ihrem dichterischen Wunderbaren: sie fanden das Zeitalter der Wahrheit -- Wie viel läßt sich nun bei diesem ungestörten Naturlaufe rückwärts schließen? wie manche Wahrschein- lichkeit zurück ausfinden, wo sonst nur Fabel wäre? Wie ungemein viel von der Veränderung solcher Landesscenen mit Gründen und Ursachen erklären? Philosophie tritt hier der Geschichte zur Seite, wo sie kaum noch Geschichte ist: sie leuchtet auch selbst, Chronologisch gerechnet, der Wahrheit gleichsam vor: die älteste Halbgeschichte wird pragmatisch -- wenigstens ein lehrender, ein bildender dichterischer Roman. Nicht so unsre älteste Landesgeschichte. Unsre Tem-
Kritiſche Waͤlder. es wenigſtens im Munde ihrer Landesmuͤtter, imMunde ihrer Liederſaͤnger, ihrer Dichter, ihrer Fabelſchreiber. Aus dieſer Blume von eigner Nationalmythologie wird mit der Zeit die Frucht reifer wahrer Geſchichte, ohne wunderſame Ein- pfropfungen und Bezauberungen, nach dem Laufe der Natur. Und eben das Ordentliche dieſes Na- turlaufes ergaͤnzet ungemein die Luͤcken der aͤl- teſten Geſchichte. Die erſten hiſtoriſch dichteri- ſchen Mythologiſten waren eine Produktion ihres Zeitalters: der Zeitgeiſt nahm ihnen allgemach im- mer mehr von ihrem dichteriſchen Wunderbaren: ſie fanden das Zeitalter der Wahrheit — Wie viel laͤßt ſich nun bei dieſem ungeſtoͤrten Naturlaufe ruͤckwaͤrts ſchließen? wie manche Wahrſchein- lichkeit zuruͤck ausfinden, wo ſonſt nur Fabel waͤre? Wie ungemein viel von der Veraͤnderung ſolcher Landesſcenen mit Gruͤnden und Urſachen erklaͤren? Philoſophie tritt hier der Geſchichte zur Seite, wo ſie kaum noch Geſchichte iſt: ſie leuchtet auch ſelbſt, Chronologiſch gerechnet, der Wahrheit gleichſam vor: die aͤlteſte Halbgeſchichte wird pragmatiſch — wenigſtens ein lehrender, ein bildender dichteriſcher Roman. Nicht ſo unſre aͤlteſte Landesgeſchichte. Unſre Tem-
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Kritiſche Waͤlder.
es wenigſtens im Munde ihrer Landesmuͤtter, im
Munde ihrer Liederſaͤnger, ihrer Dichter, ihrer
Fabelſchreiber. Aus dieſer Blume von eigner
Nationalmythologie wird mit der Zeit die Frucht
reifer wahrer Geſchichte, ohne wunderſame Ein-
pfropfungen und Bezauberungen, nach dem Laufe
der Natur. Und eben das Ordentliche dieſes Na-
turlaufes ergaͤnzet ungemein die Luͤcken der aͤl-
teſten Geſchichte. Die erſten hiſtoriſch dichteri-
ſchen Mythologiſten waren eine Produktion ihres
Zeitalters: der Zeitgeiſt nahm ihnen allgemach im-
mer mehr von ihrem dichteriſchen Wunderbaren:
ſie fanden das Zeitalter der Wahrheit — Wie
viel laͤßt ſich nun bei dieſem ungeſtoͤrten Naturlaufe
ruͤckwaͤrts ſchließen? wie manche Wahrſchein-
lichkeit zuruͤck ausfinden, wo ſonſt nur Fabel waͤre?
Wie ungemein viel von der Veraͤnderung ſolcher
Landesſcenen mit Gruͤnden und Urſachen erklaͤren?
Philoſophie tritt hier der Geſchichte zur Seite, wo
ſie kaum noch Geſchichte iſt: ſie leuchtet auch ſelbſt,
Chronologiſch gerechnet, der Wahrheit gleichſam
vor: die aͤlteſte Halbgeſchichte wird pragmatiſch —
wenigſtens ein lehrender, ein bildender dichteriſcher
Roman.
Nicht ſo unſre aͤlteſte Landesgeſchichte. Unſre
Barden ſind vertilgt, mit ihnen alſo auch die ſinn-
reichen Dichtungen vertilgt, die ſich aus den alt-
griechiſchen Dichtern zuſammenleſen und zu dem
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