Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769.Drittes Wäldchen. scheide: ist dies Geschichte Englands, wie sie ge-schehen ist, oder wie Hume meint, daß sie sich hätte zutragen können? ja, daß ichs für Fehler und Verderbniß aller Geschichte halte, auf nichts als Historische Kunst, Epische Anordnung, Pragma- tische Bemerkungen, Philosophische Einlenkungen zu dringen, unter denen ich den nackten wahren Körper der Geschichte so wenig erkennen kann, wie er ist, als wenn der Emil des Bruder Philipps vor seinen Gänschen stille stehen, und aus dem äußerlichen Anzuge, und dem Reifrocke, und der Schnürbrust desselben auf die verborgene wahre Gestalt des geputzten weiblichen Körpers weissagen sollte. -- -- Bei aller unsrer Zurichtung der Hi- storie für den guten Geschmack sollte es also Haupt- regel seyn, genau dem Leser die Gränze zu bezeich- nen, wo Geschichte aufhört, und Vermuthung anfängt; ja genau den Grad der Gewißheit bei je- dem Tritte. Gehört dies nun der ganzen Ge- schichtskunde als Eigenthum zu: vielmehr unsrer strengen trocknen Deutschen. Bei uns kommt das Wort Geschichte, nicht von Schichten und Episch ordnen, und Pragmatisch durchweben, sondern von dem vielbedeutenden strengen Worte: geschehen her, und darüber will ich auch nicht bis auf Einen Punkt in Ungewißheit bleiben. Darf ich mein Gutachten zu einer deutschen Reichs- Deutsch- L 4
Drittes Waͤldchen. ſcheide: iſt dies Geſchichte Englands, wie ſie ge-ſchehen iſt, oder wie Hume meint, daß ſie ſich haͤtte zutragen koͤnnen? ja, daß ichs fuͤr Fehler und Verderbniß aller Geſchichte halte, auf nichts als Hiſtoriſche Kunſt, Epiſche Anordnung, Pragma- tiſche Bemerkungen, Philoſophiſche Einlenkungen zu dringen, unter denen ich den nackten wahren Koͤrper der Geſchichte ſo wenig erkennen kann, wie er iſt, als wenn der Emil des Bruder Philipps vor ſeinen Gaͤnschen ſtille ſtehen, und aus dem aͤußerlichen Anzuge, und dem Reifrocke, und der Schnuͤrbruſt deſſelben auf die verborgene wahre Geſtalt des geputzten weiblichen Koͤrpers weiſſagen ſollte. — — Bei aller unſrer Zurichtung der Hi- ſtorie fuͤr den guten Geſchmack ſollte es alſo Haupt- regel ſeyn, genau dem Leſer die Graͤnze zu bezeich- nen, wo Geſchichte aufhoͤrt, und Vermuthung anfaͤngt; ja genau den Grad der Gewißheit bei je- dem Tritte. Gehoͤrt dies nun der ganzen Ge- ſchichtskunde als Eigenthum zu: vielmehr unſrer ſtrengen trocknen Deutſchen. Bei uns kommt das Wort Geſchichte, nicht von Schichten und Epiſch ordnen, und Pragmatiſch durchweben, ſondern von dem vielbedeutenden ſtrengen Worte: geſchehen her, und daruͤber will ich auch nicht bis auf Einen Punkt in Ungewißheit bleiben. Darf ich mein Gutachten zu einer deutſchen Reichs- Deutſch- L 4
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Drittes Waͤldchen.
ſcheide: iſt dies Geſchichte Englands, wie ſie ge-
ſchehen iſt, oder wie Hume meint, daß ſie ſich
haͤtte zutragen koͤnnen? ja, daß ichs fuͤr Fehler und
Verderbniß aller Geſchichte halte, auf nichts als
Hiſtoriſche Kunſt, Epiſche Anordnung, Pragma-
tiſche Bemerkungen, Philoſophiſche Einlenkungen
zu dringen, unter denen ich den nackten wahren
Koͤrper der Geſchichte ſo wenig erkennen kann, wie
er iſt, als wenn der Emil des Bruder Philipps
vor ſeinen Gaͤnschen ſtille ſtehen, und aus dem
aͤußerlichen Anzuge, und dem Reifrocke, und der
Schnuͤrbruſt deſſelben auf die verborgene wahre
Geſtalt des geputzten weiblichen Koͤrpers weiſſagen
ſollte. — — Bei aller unſrer Zurichtung der Hi-
ſtorie fuͤr den guten Geſchmack ſollte es alſo Haupt-
regel ſeyn, genau dem Leſer die Graͤnze zu bezeich-
nen, wo Geſchichte aufhoͤrt, und Vermuthung
anfaͤngt; ja genau den Grad der Gewißheit bei je-
dem Tritte. Gehoͤrt dies nun der ganzen Ge-
ſchichtskunde als Eigenthum zu: vielmehr unſrer
ſtrengen trocknen Deutſchen. Bei uns kommt das
Wort Geſchichte, nicht von Schichten und
Epiſch ordnen, und Pragmatiſch durchweben,
ſondern von dem vielbedeutenden ſtrengen Worte:
geſchehen her, und daruͤber will ich auch nicht bis
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