Herder, Johann Gottfried von: Kritische Wälder. Bd. 3. Riga, 1769.Drittes Wäldchen. "tete, die die Augen des Nicostratus auf des"Zeuxes Helena geheftet hatte. Jch wünschte, "daß ich mich durch das Bewußtseyn größerer "Verdienste und Einsichten in die Kunst berech- "tigt fühlte, mit dem edlen Stolze des Malers "ihnen antworten zu können: "Jhr würdet "euch nicht wundern, wenn ihr meine Augen hät- "tet." Es ist gewiß, daß viele Personen ei- "nerlei Gegenstand betrachten, und gleichwohl "viele nicht dasselbe an ihm bemerken können, was "sich dem Auge eines Einzigen in einem reizen- "den Glanze darstellt. Manchen wird der An- "blick einer Gothischen Cathedralkirche eben so sehr "rühren, als des Pantheons zu Rom, und die Ent- "zückung, welche Pietro di Cortona bei dem "Anblicke des Pferdes des Marcus Aurels in dem "Hofe des Capitols die Worte oft ablockte: "So "gehe doch fort, weißt du nicht, daß du lebendig "bist?" kann von den wenigsten auch nur be- "griffen werden. Wie viele Künstler waren "nicht von jenem Rumpfe einer alten Bildsäule "weggegangen, ohne die glückliche Entdeckung ge- "macht zu haben, die Michel Angelo fand! Er "bemerkte blos an ihm einen gewissen Grundsatz, "welcher nach Hogarths Urtheile, seinen Werken "einen erhabnen Geschmack gegeben, der den "guten Stücken des Alterthums gleich kommt. "Jch glaube, daß Addison aus einer Empfin- "dung B 5
Drittes Waͤldchen. „tete, die die Augen des Nicoſtratus auf des„Zeuxes Helena geheftet hatte. Jch wuͤnſchte, „daß ich mich durch das Bewußtſeyn groͤßerer „Verdienſte und Einſichten in die Kunſt berech- „tigt fuͤhlte, mit dem edlen Stolze des Malers „ihnen antworten zu koͤnnen: „Jhr wuͤrdet „euch nicht wundern, wenn ihr meine Augen haͤt- „tet.„ Es iſt gewiß, daß viele Perſonen ei- „nerlei Gegenſtand betrachten, und gleichwohl „viele nicht daſſelbe an ihm bemerken koͤnnen, was „ſich dem Auge eines Einzigen in einem reizen- „den Glanze darſtellt. Manchen wird der An- „blick einer Gothiſchen Cathedralkirche eben ſo ſehr „ruͤhren, als des Pantheons zu Rom, und die Ent- „zuͤckung, welche Pietro di Cortona bei dem „Anblicke des Pferdes des Marcus Aurels in dem „Hofe des Capitols die Worte oft ablockte: „So „gehe doch fort, weißt du nicht, daß du lebendig „biſt?„ kann von den wenigſten auch nur be- „griffen werden. Wie viele Kuͤnſtler waren „nicht von jenem Rumpfe einer alten Bildſaͤule „weggegangen, ohne die gluͤckliche Entdeckung ge- „macht zu haben, die Michel Angelo fand! Er „bemerkte blos an ihm einen gewiſſen Grundſatz, „welcher nach Hogarths Urtheile, ſeinen Werken „einen erhabnen Geſchmack gegeben, der den „guten Stuͤcken des Alterthums gleich kommt. „Jch glaube, daß Addiſon aus einer Empfin- „dung B 5
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Drittes Waͤldchen.
„tete, die die Augen des Nicoſtratus auf des
„Zeuxes Helena geheftet hatte. Jch wuͤnſchte,
„daß ich mich durch das Bewußtſeyn groͤßerer
„Verdienſte und Einſichten in die Kunſt berech-
„tigt fuͤhlte, mit dem edlen Stolze des Malers
„ihnen antworten zu koͤnnen: „Jhr wuͤrdet
„euch nicht wundern, wenn ihr meine Augen haͤt-
„tet.„ Es iſt gewiß, daß viele Perſonen ei-
„nerlei Gegenſtand betrachten, und gleichwohl
„viele nicht daſſelbe an ihm bemerken koͤnnen, was
„ſich dem Auge eines Einzigen in einem reizen-
„den Glanze darſtellt. Manchen wird der An-
„blick einer Gothiſchen Cathedralkirche eben ſo ſehr
„ruͤhren, als des Pantheons zu Rom, und die Ent-
„zuͤckung, welche Pietro di Cortona bei dem
„Anblicke des Pferdes des Marcus Aurels in dem
„Hofe des Capitols die Worte oft ablockte: „So
„gehe doch fort, weißt du nicht, daß du lebendig
„biſt?„ kann von den wenigſten auch nur be-
„griffen werden. Wie viele Kuͤnſtler waren
„nicht von jenem Rumpfe einer alten Bildſaͤule
„weggegangen, ohne die gluͤckliche Entdeckung ge-
„macht zu haben, die Michel Angelo fand! Er
„bemerkte blos an ihm einen gewiſſen Grundſatz,
„welcher nach Hogarths Urtheile, ſeinen Werken
„einen erhabnen Geſchmack gegeben, der den
„guten Stuͤcken des Alterthums gleich kommt.
„Jch glaube, daß Addiſon aus einer Empfin-
„dung
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