"kleinen Theile ihrer Perioden aufgelöset, de- "ren jeden man als einen einzelnen Vers ei- "nes besondern Sylbenmaaßes betrachten "könnte" statt daß ihn die Litteraturbriefe eine künstliche Prose nannten. Jch überließ mich meinen Gedanken, und glaubte endlich, daß dies Sylbenmaaß uns vielleicht von vie- lem Uebel erlösen, und viel Ausschluß und Bequemlichkeit bringen könnte. Man höre mich an:
Erstens: Hätten wir einen Dithyrambi- schen Dichter, der wirklich von dem Bliz- strahle des Bacchus getroffen, trunken, und begeistert tönen würde: -- natürlich wäre kein gefesseltes Sylbenmaaß für ihn; er zer- reißt es, wie Simson die Bastseile, als Zwirnsfäden. Allein diese Verse sind Pinda- rische Pfeile in der Hand des Starken: die, mit Pindar zu reden, blos für die Mitver- ständige klingen, dem großen Haufen der Aus- leger aber, wie eine dunkle Wolke scheinen. Unser mißglückter Dithyrambensänger kann dieser Bemerkung, durch seinen Jkarischen Fall ein Gewicht beilegen.
Zwei-
„kleinen Theile ihrer Perioden aufgeloͤſet, de- „ren jeden man als einen einzelnen Vers ei- „nes beſondern Sylbenmaaßes betrachten „koͤnnte„ ſtatt daß ihn die Litteraturbriefe eine kuͤnſtliche Proſe nannten. Jch uͤberließ mich meinen Gedanken, und glaubte endlich, daß dies Sylbenmaaß uns vielleicht von vie- lem Uebel erloͤſen, und viel Auſſchluß und Bequemlichkeit bringen koͤnnte. Man hoͤre mich an:
Erſtens: Haͤtten wir einen Dithyrambi- ſchen Dichter, der wirklich von dem Bliz- ſtrahle des Bacchus getroffen, trunken, und begeiſtert toͤnen wuͤrde: — natuͤrlich waͤre kein gefeſſeltes Sylbenmaaß fuͤr ihn; er zer- reißt es, wie Simſon die Baſtſeile, als Zwirnsfaͤden. Allein dieſe Verſe ſind Pinda- riſche Pfeile in der Hand des Starken: die, mit Pindar zu reden, blos fuͤr die Mitver- ſtaͤndige klingen, dem großen Haufen der Aus- leger aber, wie eine dunkle Wolke ſcheinen. Unſer mißgluͤckter Dithyrambenſaͤnger kann dieſer Bemerkung, durch ſeinen Jkariſchen Fall ein Gewicht beilegen.
Zwei-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0131"n="127"/>„kleinen Theile ihrer Perioden aufgeloͤſet, de-<lb/>„ren jeden man als einen einzelnen Vers ei-<lb/>„nes beſondern Sylbenmaaßes betrachten<lb/>„koͤnnte„ſtatt daß ihn die Litteraturbriefe eine<lb/><hirendition="#fr">kuͤnſtliche Proſe</hi> nannten. Jch uͤberließ<lb/>
mich meinen Gedanken, und glaubte endlich,<lb/>
daß dies Sylbenmaaß uns vielleicht von vie-<lb/>
lem Uebel erloͤſen, und viel Auſſchluß und<lb/>
Bequemlichkeit bringen koͤnnte. Man hoͤre<lb/>
mich an:</p><lb/><p>Erſtens: Haͤtten wir einen Dithyrambi-<lb/>ſchen Dichter, der wirklich von dem Bliz-<lb/>ſtrahle des Bacchus getroffen, trunken, und<lb/>
begeiſtert toͤnen wuͤrde: — natuͤrlich waͤre<lb/>
kein gefeſſeltes Sylbenmaaß fuͤr ihn; er zer-<lb/>
reißt es, wie Simſon die Baſtſeile, als<lb/>
Zwirnsfaͤden. Allein dieſe Verſe ſind Pinda-<lb/>
riſche Pfeile in der Hand des Starken: die,<lb/>
mit Pindar zu reden, blos fuͤr die Mitver-<lb/>ſtaͤndige klingen, dem großen Haufen der Aus-<lb/>
leger aber, wie eine dunkle Wolke ſcheinen.<lb/>
Unſer mißgluͤckter Dithyrambenſaͤnger kann<lb/>
dieſer Bemerkung, durch ſeinen Jkariſchen<lb/>
Fall ein Gewicht beilegen.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Zwei-</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[127/0131]
„kleinen Theile ihrer Perioden aufgeloͤſet, de-
„ren jeden man als einen einzelnen Vers ei-
„nes beſondern Sylbenmaaßes betrachten
„koͤnnte„ ſtatt daß ihn die Litteraturbriefe eine
kuͤnſtliche Proſe nannten. Jch uͤberließ
mich meinen Gedanken, und glaubte endlich,
daß dies Sylbenmaaß uns vielleicht von vie-
lem Uebel erloͤſen, und viel Auſſchluß und
Bequemlichkeit bringen koͤnnte. Man hoͤre
mich an:
Erſtens: Haͤtten wir einen Dithyrambi-
ſchen Dichter, der wirklich von dem Bliz-
ſtrahle des Bacchus getroffen, trunken, und
begeiſtert toͤnen wuͤrde: — natuͤrlich waͤre
kein gefeſſeltes Sylbenmaaß fuͤr ihn; er zer-
reißt es, wie Simſon die Baſtſeile, als
Zwirnsfaͤden. Allein dieſe Verſe ſind Pinda-
riſche Pfeile in der Hand des Starken: die,
mit Pindar zu reden, blos fuͤr die Mitver-
ſtaͤndige klingen, dem großen Haufen der Aus-
leger aber, wie eine dunkle Wolke ſcheinen.
Unſer mißgluͤckter Dithyrambenſaͤnger kann
dieſer Bemerkung, durch ſeinen Jkariſchen
Fall ein Gewicht beilegen.
Zwei-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/131>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.