Zweitens: Die hohen Oden des Affekts werden natürlich ihre Empfindungen auflösen, sie mögen in kurzem Odem jauchzen, oder donnern, oder seufzen und weinen. Dies Sylbenmaaß kann, nach jener Scythischen Zeichensprache zu reden, wie ein Pfeil treffen, sich wie ein Adler aufschwingen, es kann die Sprache durchgraben, und sich wieder, ohne zu sinken, schwimmend erhalten. Wenn man manche Deutsche Lehroden in ihrem gewöhnlichen Sylbenmaaße ansieht, so sollte man beinahe denken, daß das gewöhnliche Strophenmaaß der Gränzstein eines Para- graphen seyn sollte. Das geht denn nun so hin, aber sollen diese Oden Affekt singen -- ein Gesang nach einer Kirchenmelodie.
Drittens: Die Gemälde der Einbil- dungskraft können ein gefesseltes Sylben- maaß nicht ertragen, ohne daß sie, oder das Sylbenmaaß leidet. Bei Pindar und Horaz läuft die Periode und das Gleich- niß über die Strophe; bei den meisten Deut- schen Dichtern sind sie zahm genug. sich in die Strophe einzuschließen. Eine Karschin, die jetzt nichts weniger, als den Perioden der
Ode
Zweitens: Die hohen Oden des Affekts werden natuͤrlich ihre Empfindungen aufloͤſen, ſie moͤgen in kurzem Odem jauchzen, oder donnern, oder ſeufzen und weinen. Dies Sylbenmaaß kann, nach jener Scythiſchen Zeichenſprache zu reden, wie ein Pfeil treffen, ſich wie ein Adler aufſchwingen, es kann die Sprache durchgraben, und ſich wieder, ohne zu ſinken, ſchwimmend erhalten. Wenn man manche Deutſche Lehroden in ihrem gewoͤhnlichen Sylbenmaaße anſieht, ſo ſollte man beinahe denken, daß das gewoͤhnliche Strophenmaaß der Graͤnzſtein eines Para- graphen ſeyn ſollte. Das geht denn nun ſo hin, aber ſollen dieſe Oden Affekt ſingen — ein Geſang nach einer Kirchenmelodie.
Drittens: Die Gemaͤlde der Einbil- dungskraft koͤnnen ein gefeſſeltes Sylben- maaß nicht ertragen, ohne daß ſie, oder das Sylbenmaaß leidet. Bei Pindar und Horaz laͤuft die Periode und das Gleich- niß uͤber die Strophe; bei den meiſten Deut- ſchen Dichtern ſind ſie zahm genug. ſich in die Strophe einzuſchließen. Eine Karſchin, die jetzt nichts weniger, als den Perioden der
Ode
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Zweitens: Die hohen Oden des Affekts
werden natuͤrlich ihre Empfindungen aufloͤſen,
ſie moͤgen in kurzem Odem jauchzen, oder
donnern, oder ſeufzen und weinen. Dies
Sylbenmaaß kann, nach jener Scythiſchen
Zeichenſprache zu reden, wie ein Pfeil treffen,
ſich wie ein Adler aufſchwingen, es kann die
Sprache durchgraben, und ſich wieder, ohne
zu ſinken, ſchwimmend erhalten. Wenn
man manche Deutſche Lehroden in ihrem
gewoͤhnlichen Sylbenmaaße anſieht, ſo ſollte
man beinahe denken, daß das gewoͤhnliche
Strophenmaaß der Graͤnzſtein eines Para-
graphen ſeyn ſollte. Das geht denn nun ſo
hin, aber ſollen dieſe Oden Affekt ſingen —
ein Geſang nach einer Kirchenmelodie.
Drittens: Die Gemaͤlde der Einbil-
dungskraft koͤnnen ein gefeſſeltes Sylben-
maaß nicht ertragen, ohne daß ſie, oder
das Sylbenmaaß leidet. Bei Pindar und
Horaz laͤuft die Periode und das Gleich-
niß uͤber die Strophe; bei den meiſten Deut-
ſchen Dichtern ſind ſie zahm genug. ſich in
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/132>, abgerufen am 16.02.2025.
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