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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767.

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nie Acht zu haben. Derselbe Blick, der die
Begriffe, wie die Farben im Sonnenstral,
theilt, nimmt auch die Lichtbrechung in den
Nuancen der Sprache wahr. Der mittel-
mäßige Scribent bequemt sich, nach dem or-
dentlichen Wege, um ins Cabinett seines Für-
sten zu gelangen; dieser besticht jener betriegt,
ein andrer schmeichelt: ein gewisser Deutscher
Pythagoras läßt sich beschneiden, um hinter
die Vorhänge der Weisheit zu kommen; das
kühne Genie durchstößt das so beschwerliche
Ceremoniel: findet und sucht sich Jdiotismen;
gräbt in die Eingeweide der Sprache, wie in
die Bergklüfte, um Gold zu finden. Und be-
triegt es sich auch manchmal mit seinen Gold-
klumpen: der Sprachenphilosoph probire und
läutere es: wenigstens gab er Gelegenheit zu
chymischen Versuchen. Möchten sich nur
viele solche Bergleute und Schmelzer in
Deutschland finden, die, wenn die Deutsche
Sprache eine Berg- und Weidsprache ist,
auch als Gräber und Jäger sie durchsuchten.
Cäsar schrieb über die Aehnlichkeit der Spra-
chen; Varro über die Etymologie; Leibniz
schämte sich nicht, ein Sprachforscher zu seyn,

und

nie Acht zu haben. Derſelbe Blick, der die
Begriffe, wie die Farben im Sonnenſtral,
theilt, nimmt auch die Lichtbrechung in den
Nuancen der Sprache wahr. Der mittel-
maͤßige Scribent bequemt ſich, nach dem or-
dentlichen Wege, um ins Cabinett ſeines Fuͤr-
ſten zu gelangen; dieſer beſticht jener betriegt,
ein andrer ſchmeichelt: ein gewiſſer Deutſcher
Pythagoras laͤßt ſich beſchneiden, um hinter
die Vorhaͤnge der Weisheit zu kommen; das
kuͤhne Genie durchſtoͤßt das ſo beſchwerliche
Ceremoniel: findet und ſucht ſich Jdiotismen;
graͤbt in die Eingeweide der Sprache, wie in
die Bergkluͤfte, um Gold zu finden. Und be-
triegt es ſich auch manchmal mit ſeinen Gold-
klumpen: der Sprachenphiloſoph probire und
laͤutere es: wenigſtens gab er Gelegenheit zu
chymiſchen Verſuchen. Moͤchten ſich nur
viele ſolche Bergleute und Schmelzer in
Deutſchland finden, die, wenn die Deutſche
Sprache eine Berg- und Weidſprache iſt,
auch als Graͤber und Jaͤger ſie durchſuchten.
Caͤſar ſchrieb uͤber die Aehnlichkeit der Spra-
chen; Varro uͤber die Etymologie; Leibniz
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[52/0056] nie Acht zu haben. Derſelbe Blick, der die Begriffe, wie die Farben im Sonnenſtral, theilt, nimmt auch die Lichtbrechung in den Nuancen der Sprache wahr. Der mittel- maͤßige Scribent bequemt ſich, nach dem or- dentlichen Wege, um ins Cabinett ſeines Fuͤr- ſten zu gelangen; dieſer beſticht jener betriegt, ein andrer ſchmeichelt: ein gewiſſer Deutſcher Pythagoras laͤßt ſich beſchneiden, um hinter die Vorhaͤnge der Weisheit zu kommen; das kuͤhne Genie durchſtoͤßt das ſo beſchwerliche Ceremoniel: findet und ſucht ſich Jdiotismen; graͤbt in die Eingeweide der Sprache, wie in die Bergkluͤfte, um Gold zu finden. Und be- triegt es ſich auch manchmal mit ſeinen Gold- klumpen: der Sprachenphiloſoph probire und laͤutere es: wenigſtens gab er Gelegenheit zu chymiſchen Verſuchen. Moͤchten ſich nur viele ſolche Bergleute und Schmelzer in Deutſchland finden, die, wenn die Deutſche Sprache eine Berg- und Weidſprache iſt, auch als Graͤber und Jaͤger ſie durchſuchten. Caͤſar ſchrieb uͤber die Aehnlichkeit der Spra- chen; Varro uͤber die Etymologie; Leibniz ſchaͤmte ſich nicht, ein Sprachforſcher zu ſeyn, und

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 1. Riga, 1767, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur01_1767/56>, abgerufen am 22.11.2024.