Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

sie zum Muster nehmen; aber Nachbildungen
unsrer Zeit gemäß machen: sonst wird alles
Carikatur! -- Schon Plato und Xeno-
phon
malen uns den Sokrates verschieden;
aber man muß beinahe ausspeien, wenn
Wieland * auftritt und sagt: "Seht! den
"Kopf des Sokrates!" Hier kann man
wie Marcell dreust antworten: Wie? das
ist Sokrates? jener liebenswürdige Wider-
sprecher, jener ehrwürdige Unwissende, jener
feine Jronische Geist, und der redlichste Bür-
ger, kurz! der Weiseste unter den Weisen
Griechenlands -- das sollte ihr Sokrates
seyn? Nein! mein Herr! dieser unausstehli-
che Disputirer mit vollem Munde, dieser lä-
cherliche Weisheit- und Tugendkrämer, dieser
grobe Zänker, und Misanthropische Schim-
pfer ist ein Geschöpf neuerer Zeit, ein Weiser
aus Schweizerischen Republiken. -- Und
doch hat W. ja wirklich die Griechen gele-
sen? -- quid fures faciant, audeant cum
talia domini?
-- So sehr die Griechen
ihren Homer nuzten, so wenig brauchten sie

ihn
* Litter, Br. Th. 7.
U 3

ſie zum Muſter nehmen; aber Nachbildungen
unſrer Zeit gemaͤß machen: ſonſt wird alles
Carikatur! — Schon Plato und Xeno-
phon
malen uns den Sokrates verſchieden;
aber man muß beinahe ausſpeien, wenn
Wieland * auftritt und ſagt: „Seht! den
„Kopf des Sokrates!„ Hier kann man
wie Marcell dreuſt antworten: Wie? das
iſt Sokrates? jener liebenswuͤrdige Wider-
ſprecher, jener ehrwuͤrdige Unwiſſende, jener
feine Jroniſche Geiſt, und der redlichſte Buͤr-
ger, kurz! der Weiſeſte unter den Weiſen
Griechenlands — das ſollte ihr Sokrates
ſeyn? Nein! mein Herr! dieſer unausſtehli-
che Diſputirer mit vollem Munde, dieſer laͤ-
cherliche Weisheit- und Tugendkraͤmer, dieſer
grobe Zaͤnker, und Miſanthropiſche Schim-
pfer iſt ein Geſchoͤpf neuerer Zeit, ein Weiſer
aus Schweizeriſchen Republiken. — Und
doch hat W. ja wirklich die Griechen gele-
ſen? — quid fures faciant, audeant cum
talia domini?
— So ſehr die Griechen
ihren Homer nuzten, ſo wenig brauchten ſie

ihn
* Litter, Br. Th. 7.
U 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0129" n="297"/>
&#x017F;ie zum Mu&#x017F;ter nehmen; aber Nachbildungen<lb/>
un&#x017F;rer Zeit gema&#x0364;ß machen: &#x017F;on&#x017F;t wird alles<lb/><hi rendition="#fr">Carikatur!</hi> &#x2014; Schon <hi rendition="#fr">Plato</hi> und <hi rendition="#fr">Xeno-<lb/>
phon</hi> malen uns den Sokrates ver&#x017F;chieden;<lb/>
aber man muß beinahe aus&#x017F;peien, wenn<lb/><hi rendition="#fr">Wieland</hi> <note place="foot" n="*">Litter, Br. Th. 7.</note> auftritt und &#x017F;agt: &#x201E;Seht! den<lb/>
&#x201E;Kopf des Sokrates!&#x201E; Hier kann man<lb/>
wie <hi rendition="#fr">Marcell</hi> dreu&#x017F;t antworten: Wie? das<lb/>
i&#x017F;t Sokrates? jener liebenswu&#x0364;rdige Wider-<lb/>
&#x017F;precher, jener ehrwu&#x0364;rdige Unwi&#x017F;&#x017F;ende, jener<lb/>
feine Jroni&#x017F;che Gei&#x017F;t, und der redlich&#x017F;te Bu&#x0364;r-<lb/>
ger, kurz! der Wei&#x017F;e&#x017F;te unter den Wei&#x017F;en<lb/>
Griechenlands &#x2014; das &#x017F;ollte ihr Sokrates<lb/>
&#x017F;eyn? Nein! mein Herr! die&#x017F;er unaus&#x017F;tehli-<lb/>
che Di&#x017F;putirer mit vollem Munde, die&#x017F;er la&#x0364;-<lb/>
cherliche Weisheit- und Tugendkra&#x0364;mer, die&#x017F;er<lb/>
grobe Za&#x0364;nker, und Mi&#x017F;anthropi&#x017F;che Schim-<lb/>
pfer i&#x017F;t ein Ge&#x017F;cho&#x0364;pf neuerer Zeit, ein Wei&#x017F;er<lb/>
aus Schweizeri&#x017F;chen Republiken. &#x2014; Und<lb/>
doch hat W. ja wirklich die Griechen gele-<lb/>
&#x017F;en? &#x2014; <hi rendition="#aq">quid fures faciant, audeant cum<lb/>
talia domini?</hi> &#x2014; So &#x017F;ehr die Griechen<lb/>
ihren Homer nuzten, &#x017F;o wenig brauchten &#x017F;ie<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">U 3</fw><fw place="bottom" type="catch">ihn</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0129] ſie zum Muſter nehmen; aber Nachbildungen unſrer Zeit gemaͤß machen: ſonſt wird alles Carikatur! — Schon Plato und Xeno- phon malen uns den Sokrates verſchieden; aber man muß beinahe ausſpeien, wenn Wieland * auftritt und ſagt: „Seht! den „Kopf des Sokrates!„ Hier kann man wie Marcell dreuſt antworten: Wie? das iſt Sokrates? jener liebenswuͤrdige Wider- ſprecher, jener ehrwuͤrdige Unwiſſende, jener feine Jroniſche Geiſt, und der redlichſte Buͤr- ger, kurz! der Weiſeſte unter den Weiſen Griechenlands — das ſollte ihr Sokrates ſeyn? Nein! mein Herr! dieſer unausſtehli- che Diſputirer mit vollem Munde, dieſer laͤ- cherliche Weisheit- und Tugendkraͤmer, dieſer grobe Zaͤnker, und Miſanthropiſche Schim- pfer iſt ein Geſchoͤpf neuerer Zeit, ein Weiſer aus Schweizeriſchen Republiken. — Und doch hat W. ja wirklich die Griechen gele- ſen? — quid fures faciant, audeant cum talia domini? — So ſehr die Griechen ihren Homer nuzten, ſo wenig brauchten ſie ihn * Litter, Br. Th. 7. U 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/129
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/129>, abgerufen am 04.12.2024.