Leidenschaften und Empfindungen? Eine Lei- denschaft, eine Empfindung höchst ver- schonert, hört auf, Leidenschaft, Empfin- dung zu seyn: zweitens, sie hat keinen sinn- lichen Ausdruck: das höchste Schöne hat kein Bild. Wir wollen diese zwei Ursachen sehen! Ein Schäfer mit höchst verschönerten Empfindungen hört auf, Schäfer zu seyn; er wird ein Poetischer Gott: das ist nicht mehr ein Land der Erde, sondern ein Elysium der Götter: er handelt nicht mehr, sondern be- schäftigt sich höchstens, um seine Jdealgröße zu zeigen: er wird aus einem Menschen ein Engel: seine Zeit ein gewisses Figment der goldnen Zeit. -- Und profitirt der Dichter dabei? Ohnmöglich! Uns rührt-nichts, was nicht mehr Mensch ist: Götter, die nicht menschlich werden, bewundern wir höch- stens mit kalter Bewunderung: so entgehk dem Dichter viel von seinem Zweck: und noch mehr von der Mannichfaltigkeit seiner Cha- raktere. Wenn ich immer die höchst ver- schonerte Schäferlarve sehe, so verliere ich die Verschiedenheit menschlicher Gesichts- züge: dem Dichter entgehen zehn Situatio-
nen;
Leidenſchaften und Empfindungen? Eine Lei- denſchaft, eine Empfindung hoͤchſt ver- ſcho̊nert, hoͤrt auf, Leidenſchaft, Empfin- dung zu ſeyn: zweitens, ſie hat keinen ſinn- lichen Ausdruck: das hoͤchſte Schoͤne hat kein Bild. Wir wollen dieſe zwei Urſachen ſehen! Ein Schaͤfer mit hoͤchſt verſchoͤnerten Empfindungen hoͤrt auf, Schaͤfer zu ſeyn; er wird ein Poetiſcher Gott: das iſt nicht mehr ein Land der Erde, ſondern ein Elyſium der Goͤtter: er handelt nicht mehr, ſondern be- ſchaͤftigt ſich hoͤchſtens, um ſeine Jdealgroͤße zu zeigen: er wird aus einem Menſchen ein Engel: ſeine Zeit ein gewiſſes Figment der goldnen Zeit. — Und profitirt der Dichter dabei? Ohnmoͤglich! Uns ruͤhrt-nichts, was nicht mehr Menſch iſt: Goͤtter, die nicht menſchlich werden, bewundern wir hoͤch- ſtens mit kalter Bewunderung: ſo entgehk dem Dichter viel von ſeinem Zweck: und noch mehr von der Mannichfaltigkeit ſeiner Cha- raktere. Wenn ich immer die hoͤchſt ver- ſcho̊nerte Schaͤferlarve ſehe, ſo verliere ich die Verſchiedenheit menſchlicher Geſichts- zuͤge: dem Dichter entgehen zehn Situatio-
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Leidenſchaften und Empfindungen? Eine Lei-
denſchaft, eine Empfindung hoͤchſt ver-
ſcho̊nert, hoͤrt auf, Leidenſchaft, Empfin-
dung zu ſeyn: zweitens, ſie hat keinen ſinn-
lichen Ausdruck: das hoͤchſte Schoͤne hat
kein Bild. Wir wollen dieſe zwei Urſachen
ſehen! Ein Schaͤfer mit hoͤchſt verſchoͤnerten
Empfindungen hoͤrt auf, Schaͤfer zu ſeyn; er
wird ein Poetiſcher Gott: das iſt nicht mehr
ein Land der Erde, ſondern ein Elyſium der
Goͤtter: er handelt nicht mehr, ſondern be-
ſchaͤftigt ſich hoͤchſtens, um ſeine Jdealgroͤße
zu zeigen: er wird aus einem Menſchen ein
Engel: ſeine Zeit ein gewiſſes Figment der
goldnen Zeit. — Und profitirt der Dichter
dabei? Ohnmoͤglich! Uns ruͤhrt-nichts, was
nicht mehr Menſch iſt: Goͤtter, die nicht
menſchlich werden, bewundern wir hoͤch-
ſtens mit kalter Bewunderung: ſo entgehk
dem Dichter viel von ſeinem Zweck: und noch
mehr von der Mannichfaltigkeit ſeiner Cha-
raktere. Wenn ich immer die hoͤchſt ver-
ſcho̊nerte Schaͤferlarve ſehe, ſo verliere ich
die Verſchiedenheit menſchlicher Geſichts-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/187>, abgerufen am 16.02.2025.
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