Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

Erweckung Deutscher Genies, als viele Oden
nach regelmaßigem Schnitt; ich will ihr
auch so gar mehr einräumen, als ihr die Lit-
teraturbriefe gestatten; * dem ohngeachtet
aber kann ich doch fragen: ist sie Sappho?

Nach den zwei Fragmenten, die uns von
der Griechin übrig geblieben, würde ich ihren
Charakter ohngefähr bestimmen: "eine Sän-
"gerin, die in der Anordnung ihrer Gesänge,
"ihrer Bilder und Worte; in der zarten
"Glut,
die alles fortschmilzt und in einer fei-
"nen Wahl der wohlklingendsten Aus-
"drücke
eine zehnte Muse geworden."

Sollte auch in der Anordnung ihrer
Gesänge Dionysius aus Halikarnassus
mehr gefunden haben, als sie hineingelegt:
so sind doch die Karschischen Gedichte damit
nicht zu vergleichen, die ohne Plan im
Ganzen, ohne Oekonomie der Bilder, oh-
ne Känntniß des Lyrischen Perioden, hin-
geworfene Geburten einer reichen dichterischen
Einbildungskraft sind.

Von
* Litter. Br. Th. 17. p. 123.

Erweckung Deutſcher Genies, als viele Oden
nach regelmaßigem Schnitt; ich will ihr
auch ſo gar mehr einraͤumen, als ihr die Lit-
teraturbriefe geſtatten; * dem ohngeachtet
aber kann ich doch fragen: iſt ſie Sappho?

Nach den zwei Fragmenten, die uns von
der Griechin uͤbrig geblieben, wuͤrde ich ihren
Charakter ohngefaͤhr beſtimmen: „eine Saͤn-
„gerin, die in der Anordnung ihrer Geſaͤnge,
„ihrer Bilder und Worte; in der zarten
„Glut,
die alles fortſchmilzt und in einer fei-
„nen Wahl der wohlklingendſten Aus-
„druͤcke
eine zehnte Muſe geworden.„

Sollte auch in der Anordnung ihrer
Geſaͤnge Dionyſius aus Halikarnaſſus
mehr gefunden haben, als ſie hineingelegt:
ſo ſind doch die Karſchiſchen Gedichte damit
nicht zu vergleichen, die ohne Plan im
Ganzen, ohne Oekonomie der Bilder, oh-
ne Kaͤnntniß des Lyriſchen Perioden, hin-
geworfene Geburten einer reichen dichteriſchen
Einbildungskraft ſind.

Von
* Litter. Br. Th. 17. p. 123.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0203" n="371"/>
Erweckung Deut&#x017F;cher Genies, als viele Oden<lb/>
nach regelmaßigem Schnitt; ich will ihr<lb/>
auch &#x017F;o gar mehr einra&#x0364;umen, als ihr die Lit-<lb/>
teraturbriefe ge&#x017F;tatten; <note place="foot" n="*">Litter. Br. Th. 17. p. 123.</note> dem ohngeachtet<lb/>
aber kann ich doch fragen: i&#x017F;t &#x017F;ie Sappho?</p><lb/>
          <p>Nach den zwei Fragmenten, die uns von<lb/>
der Griechin u&#x0364;brig geblieben, wu&#x0364;rde ich ihren<lb/>
Charakter ohngefa&#x0364;hr be&#x017F;timmen: &#x201E;eine Sa&#x0364;n-<lb/>
&#x201E;gerin, die in der <hi rendition="#fr">Anordnung</hi> ihrer Ge&#x017F;a&#x0364;nge,<lb/>
&#x201E;ihrer <hi rendition="#fr">Bilder</hi> und <hi rendition="#fr">Worte;</hi> in der <hi rendition="#fr">zarten<lb/>
&#x201E;Glut,</hi> die alles fort&#x017F;chmilzt und in einer <hi rendition="#fr">fei-<lb/>
&#x201E;nen Wahl der wohlklingend&#x017F;ten Aus-<lb/>
&#x201E;dru&#x0364;cke</hi> eine zehnte Mu&#x017F;e geworden.&#x201E;</p><lb/>
          <p>Sollte auch in der Anordnung ihrer<lb/>
Ge&#x017F;a&#x0364;nge <hi rendition="#fr">Diony&#x017F;ius</hi> aus <hi rendition="#fr">Halikarna&#x017F;&#x017F;us</hi><lb/>
mehr gefunden haben, als &#x017F;ie hineingelegt:<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ind doch die Kar&#x017F;chi&#x017F;chen Gedichte damit<lb/>
nicht zu vergleichen, die ohne <hi rendition="#fr">Plan im</hi><lb/>
Ganzen, ohne <hi rendition="#fr">Oekonomie</hi> der Bilder, oh-<lb/>
ne <hi rendition="#fr">Ka&#x0364;nntniß des Lyri&#x017F;chen</hi> Perioden, hin-<lb/>
geworfene Geburten einer reichen dichteri&#x017F;chen<lb/>
Einbildungskraft &#x017F;ind.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Von</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[371/0203] Erweckung Deutſcher Genies, als viele Oden nach regelmaßigem Schnitt; ich will ihr auch ſo gar mehr einraͤumen, als ihr die Lit- teraturbriefe geſtatten; * dem ohngeachtet aber kann ich doch fragen: iſt ſie Sappho? Nach den zwei Fragmenten, die uns von der Griechin uͤbrig geblieben, wuͤrde ich ihren Charakter ohngefaͤhr beſtimmen: „eine Saͤn- „gerin, die in der Anordnung ihrer Geſaͤnge, „ihrer Bilder und Worte; in der zarten „Glut, die alles fortſchmilzt und in einer fei- „nen Wahl der wohlklingendſten Aus- „druͤcke eine zehnte Muſe geworden.„ Sollte auch in der Anordnung ihrer Geſaͤnge Dionyſius aus Halikarnaſſus mehr gefunden haben, als ſie hineingelegt: ſo ſind doch die Karſchiſchen Gedichte damit nicht zu vergleichen, die ohne Plan im Ganzen, ohne Oekonomie der Bilder, oh- ne Kaͤnntniß des Lyriſchen Perioden, hin- geworfene Geburten einer reichen dichteriſchen Einbildungskraft ſind. Von * Litter. Br. Th. 17. p. 123.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/203
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/203>, abgerufen am 24.11.2024.