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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767.

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richter entfaltet nur die feinsten, die dem Au-
ge selbst des Genies entwischen könnten; die
Fehler muß man auch an Cramers rügen,
wenn nicht ihrer, doch der Basedows * we-
gen; damit wer nicht Genie ist, gewarnt
werde:

Ne sumat maculas, quas aut incuria fudit
Aut humana parum cauit natura -- --

Je mehr der Kritikus sich vertheidigen
muß, desto minder wird seine Gerechtigkeit
unwidersprechlich. Der alte Syrus hat
wohl nicht Unrecht: "Lobe die Freunde öf-
"fentlich und tadle sie insgeheim!" man
gab dies auch den Litteraturbriefen Schuld;
aber wie? wenn ihre Freunde wirklich den
Königl. Mittelweg zwischen Schweizern und
Gottschedianern gegangen wären? -- Und
denn! haben sie nicht bloße Nachahmer und
knechtische Anbeter eben aus Liebe recht merk-
lich gezüchtigt?

Und wer wird bei der Wahrheit Frei-
heit
tadeln? Eine Freiheit, bald im Engli-
schen; bald im Französischen Geschmack?

We-
* Litt. Br. Th. 5. p. 289.

richter entfaltet nur die feinſten, die dem Au-
ge ſelbſt des Genies entwiſchen koͤnnten; die
Fehler muß man auch an Cramers ruͤgen,
wenn nicht ihrer, doch der Baſedows * we-
gen; damit wer nicht Genie iſt, gewarnt
werde:

Ne ſumat maculas, quas aut incuria fudit
Aut humana parum cauit natura — —

Je mehr der Kritikus ſich vertheidigen
muß, deſto minder wird ſeine Gerechtigkeit
unwiderſprechlich. Der alte Syrus hat
wohl nicht Unrecht: „Lobe die Freunde oͤf-
„fentlich und tadle ſie insgeheim!„ man
gab dies auch den Litteraturbriefen Schuld;
aber wie? wenn ihre Freunde wirklich den
Koͤnigl. Mittelweg zwiſchen Schweizern und
Gottſchedianern gegangen waͤren? — Und
denn! haben ſie nicht bloße Nachahmer und
knechtiſche Anbeter eben aus Liebe recht merk-
lich gezuͤchtigt?

Und wer wird bei der Wahrheit Frei-
heit
tadeln? Eine Freiheit, bald im Engli-
ſchen; bald im Franzoͤſiſchen Geſchmack?

We-
* Litt. Br. Th. 5. p. 289.
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[196/0028] richter entfaltet nur die feinſten, die dem Au- ge ſelbſt des Genies entwiſchen koͤnnten; die Fehler muß man auch an Cramers ruͤgen, wenn nicht ihrer, doch der Baſedows * we- gen; damit wer nicht Genie iſt, gewarnt werde: Ne ſumat maculas, quas aut incuria fudit Aut humana parum cauit natura — — Je mehr der Kritikus ſich vertheidigen muß, deſto minder wird ſeine Gerechtigkeit unwiderſprechlich. Der alte Syrus hat wohl nicht Unrecht: „Lobe die Freunde oͤf- „fentlich und tadle ſie insgeheim!„ man gab dies auch den Litteraturbriefen Schuld; aber wie? wenn ihre Freunde wirklich den Koͤnigl. Mittelweg zwiſchen Schweizern und Gottſchedianern gegangen waͤren? — Und denn! haben ſie nicht bloße Nachahmer und knechtiſche Anbeter eben aus Liebe recht merk- lich gezuͤchtigt? Und wer wird bei der Wahrheit Frei- heit tadeln? Eine Freiheit, bald im Engli- ſchen; bald im Franzoͤſiſchen Geſchmack? We- * Litt. Br. Th. 5. p. 289.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 2. Riga, 1767, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur02_1767/28>, abgerufen am 21.11.2024.