der Beobachtung, entwenden. Jch sage nur; jeder Begriff, den ich glaube, anschauend zu erkennen, da er doch blos eine Würkung der Abstraktion ist, ist ein Scheinbegriff in der Philosophie: und wenn ich ihn mit einem Na- men gatte: so ist dies ein leerer Name, den ich nicht entwickeln, und der andre also sich nicht erklären kann; auf gut Glück annimmt, und ein Wort spricht, dabei er nichts deutlich denkt. Ein großer Theil der scholastischen Wortkrämerei kam daher, weil sie abstrakte Begriffe, wie anschauende Gedanken, sich vor- bildeten, etwas wahrzunehmen glaubten, was sie schlossen, und sich unter unerklärli- che allgemeine Namen versteckten. Wenn eine neuere Philosophie fortfährt, die Wahr- heit wie eine Farbe anzusehen, und es zum obern Grundsatz des Denkens nimmt: was ich nicht anders, als wahr oder falsch denken kann, das ist wahr oder falsch -- wenn man den Grundbegriff der ganzen Aesthetik, die Schönheit, in ein Jch weiß nicht was? des Geschmacks verwandelt: und die Grund- lage der Moral in ein Gefühl, oder Gewis- sensempfindung, oder gar in einen ange-
bohr
G 4
der Beobachtung, entwenden. Jch ſage nur; jeder Begriff, den ich glaube, anſchauend zu erkennen, da er doch blos eine Wuͤrkung der Abſtraktion iſt, iſt ein Scheinbegriff in der Philoſophie: und wenn ich ihn mit einem Na- men gatte: ſo iſt dies ein leerer Name, den ich nicht entwickeln, und der andre alſo ſich nicht erklaͤren kann; auf gut Gluͤck annimmt, und ein Wort ſpricht, dabei er nichts deutlich denkt. Ein großer Theil der ſcholaſtiſchen Wortkraͤmerei kam daher, weil ſie abſtrakte Begriffe, wie anſchauende Gedanken, ſich vor- bildeten, etwas wahrzunehmen glaubten, was ſie ſchloſſen, und ſich unter unerklaͤrli- che allgemeine Namen verſteckten. Wenn eine neuere Philoſophie fortfaͤhrt, die Wahr- heit wie eine Farbe anzuſehen, und es zum obern Grundſatz des Denkens nimmt: was ich nicht anders, als wahr oder falſch denken kann, das iſt wahr oder falſch — wenn man den Grundbegriff der ganzen Aeſthetik, die Schoͤnheit, in ein Jch weiß nicht was? des Geſchmacks verwandelt: und die Grund- lage der Moral in ein Gefuͤhl, oder Gewiſ- ſensempfindung, oder gar in einen ange-
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der Beobachtung, entwenden. Jch ſage nur;
jeder Begriff, den ich glaube, anſchauend zu
erkennen, da er doch blos eine Wuͤrkung der
Abſtraktion iſt, iſt ein Scheinbegriff in der
Philoſophie: und wenn ich ihn mit einem Na-
men gatte: ſo iſt dies ein leerer Name, den
ich nicht entwickeln, und der andre alſo ſich
nicht erklaͤren kann; auf gut Gluͤck annimmt,
und ein Wort ſpricht, dabei er nichts deutlich
denkt. Ein großer Theil der ſcholaſtiſchen
Wortkraͤmerei kam daher, weil ſie abſtrakte
Begriffe, wie anſchauende Gedanken, ſich vor-
bildeten, etwas wahrzunehmen glaubten,
was ſie ſchloſſen, und ſich unter unerklaͤrli-
che allgemeine Namen verſteckten. Wenn
eine neuere Philoſophie fortfaͤhrt, die Wahr-
heit wie eine Farbe anzuſehen, und es zum
obern Grundſatz des Denkens nimmt: was
ich nicht anders, als wahr oder falſch denken
kann, das iſt wahr oder falſch — wenn man
den Grundbegriff der ganzen Aeſthetik, die
Schoͤnheit, in ein Jch weiß nicht was?
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/111>, abgerufen am 21.11.2024.
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