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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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der Beobachtung, entwenden. Jch sage nur;
jeder Begriff, den ich glaube, anschauend zu
erkennen, da er doch blos eine Würkung der
Abstraktion ist, ist ein Scheinbegriff in der
Philosophie: und wenn ich ihn mit einem Na-
men gatte: so ist dies ein leerer Name, den
ich nicht entwickeln, und der andre also sich
nicht erklären kann; auf gut Glück annimmt,
und ein Wort spricht, dabei er nichts deutlich
denkt. Ein großer Theil der scholastischen
Wortkrämerei kam daher, weil sie abstrakte
Begriffe, wie anschauende Gedanken, sich vor-
bildeten, etwas wahrzunehmen glaubten,
was sie schlossen, und sich unter unerklärli-
che allgemeine
Namen versteckten. Wenn
eine neuere Philosophie fortfährt, die Wahr-
heit
wie eine Farbe anzusehen, und es zum
obern Grundsatz des Denkens nimmt: was
ich nicht anders, als wahr oder falsch denken
kann, das ist wahr oder falsch -- wenn man
den Grundbegriff der ganzen Aesthetik, die
Schönheit,
in ein Jch weiß nicht was?
des Geschmacks verwandelt: und die Grund-
lage der Moral in ein Gefühl, oder Gewis-
sensempfindung,
oder gar in einen ange-

bohr
G 4

der Beobachtung, entwenden. Jch ſage nur;
jeder Begriff, den ich glaube, anſchauend zu
erkennen, da er doch blos eine Wuͤrkung der
Abſtraktion iſt, iſt ein Scheinbegriff in der
Philoſophie: und wenn ich ihn mit einem Na-
men gatte: ſo iſt dies ein leerer Name, den
ich nicht entwickeln, und der andre alſo ſich
nicht erklaͤren kann; auf gut Gluͤck annimmt,
und ein Wort ſpricht, dabei er nichts deutlich
denkt. Ein großer Theil der ſcholaſtiſchen
Wortkraͤmerei kam daher, weil ſie abſtrakte
Begriffe, wie anſchauende Gedanken, ſich vor-
bildeten, etwas wahrzunehmen glaubten,
was ſie ſchloſſen, und ſich unter unerklaͤrli-
che allgemeine
Namen verſteckten. Wenn
eine neuere Philoſophie fortfaͤhrt, die Wahr-
heit
wie eine Farbe anzuſehen, und es zum
obern Grundſatz des Denkens nimmt: was
ich nicht anders, als wahr oder falſch denken
kann, das iſt wahr oder falſch — wenn man
den Grundbegriff der ganzen Aeſthetik, die
Schoͤnheit,
in ein Jch weiß nicht was?
des Geſchmacks verwandelt: und die Grund-
lage der Moral in ein Gefuͤhl, oder Gewiſ-
ſensempfindung,
oder gar in einen ange-

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[103/0111] der Beobachtung, entwenden. Jch ſage nur; jeder Begriff, den ich glaube, anſchauend zu erkennen, da er doch blos eine Wuͤrkung der Abſtraktion iſt, iſt ein Scheinbegriff in der Philoſophie: und wenn ich ihn mit einem Na- men gatte: ſo iſt dies ein leerer Name, den ich nicht entwickeln, und der andre alſo ſich nicht erklaͤren kann; auf gut Gluͤck annimmt, und ein Wort ſpricht, dabei er nichts deutlich denkt. Ein großer Theil der ſcholaſtiſchen Wortkraͤmerei kam daher, weil ſie abſtrakte Begriffe, wie anſchauende Gedanken, ſich vor- bildeten, etwas wahrzunehmen glaubten, was ſie ſchloſſen, und ſich unter unerklaͤrli- che allgemeine Namen verſteckten. Wenn eine neuere Philoſophie fortfaͤhrt, die Wahr- heit wie eine Farbe anzuſehen, und es zum obern Grundſatz des Denkens nimmt: was ich nicht anders, als wahr oder falſch denken kann, das iſt wahr oder falſch — wenn man den Grundbegriff der ganzen Aeſthetik, die Schoͤnheit, in ein Jch weiß nicht was? des Geſchmacks verwandelt: und die Grund- lage der Moral in ein Gefuͤhl, oder Gewiſ- ſensempfindung, oder gar in einen ange- bohr G 4

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/111>, abgerufen am 21.11.2024.