Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite


sondern, in der man ihn zu sehen gewöhne
ist, und von Jugend auf zu sehen gewohnt
war. Er sträubt sich, und wenn wir ihn
mit Gewalt entkleiden: so entwischt er, und
läßt uns das Kleid in der Hand; oder wir
verunstalten ihn, haben ihm mit seinem Ge-
wande zugleich seine Haut zerrissen: da steht
er unkenntlich und verwundet in philosophisch-
barbarischen Hüllen. Jn der That, die Mühe
ist nicht so leicht, immer den Gedanken zum
Augenmerk zu haben, ihn von den Worten zu
entkleiden, in denen wir ihn kennen, aber
nicht nackt erkennen: ihn in das Licht der
Deutlichkeit zu zaubern, daß jeder spricht:
das ist er! und genau sagen kann: warum
ers ist?

Man sieht auch, daß dieser Weg zu phi-
losophiren Schranken habe: denn es muß end-
lich unzergliederliche Begriffe geben, die von
den einfachsten Worten nicht mehr zu tren-
nen sind, und deren muß es vermuthlich mehr
als einen geben. Eine Schule der Weltwei-
sen glaubt, daß sich alles auf Gedanke, und
selbst der Begriff des Seyns dahin zurück-
leiten lasse: dies sind ohnstreitig die Grund-

steine


ſondern, in der man ihn zu ſehen gewoͤhne
iſt, und von Jugend auf zu ſehen gewohnt
war. Er ſtraͤubt ſich, und wenn wir ihn
mit Gewalt entkleiden: ſo entwiſcht er, und
laͤßt uns das Kleid in der Hand; oder wir
verunſtalten ihn, haben ihm mit ſeinem Ge-
wande zugleich ſeine Haut zerriſſen: da ſteht
er unkenntlich und verwundet in philoſophiſch-
barbariſchen Huͤllen. Jn der That, die Muͤhe
iſt nicht ſo leicht, immer den Gedanken zum
Augenmerk zu haben, ihn von den Worten zu
entkleiden, in denen wir ihn kennen, aber
nicht nackt erkennen: ihn in das Licht der
Deutlichkeit zu zaubern, daß jeder ſpricht:
das iſt er! und genau ſagen kann: warum
ers iſt?

Man ſieht auch, daß dieſer Weg zu phi-
loſophiren Schranken habe: denn es muß end-
lich unzergliederliche Begriffe geben, die von
den einfachſten Worten nicht mehr zu tren-
nen ſind, und deren muß es vermuthlich mehr
als einen geben. Eine Schule der Weltwei-
ſen glaubt, daß ſich alles auf Gedanke, und
ſelbſt der Begriff des Seyns dahin zuruͤck-
leiten laſſe: dies ſind ohnſtreitig die Grund-

ſteine
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0119" n="111"/><lb/>
&#x017F;ondern, in der man ihn zu &#x017F;ehen gewo&#x0364;hne<lb/>
i&#x017F;t, und von Jugend auf zu &#x017F;ehen gewohnt<lb/>
war. Er &#x017F;tra&#x0364;ubt &#x017F;ich, und wenn wir ihn<lb/>
mit Gewalt entkleiden: &#x017F;o entwi&#x017F;cht er, und<lb/>
la&#x0364;ßt uns das Kleid in der Hand; oder wir<lb/>
verun&#x017F;talten ihn, haben ihm mit &#x017F;einem Ge-<lb/>
wande zugleich &#x017F;eine Haut zerri&#x017F;&#x017F;en: da &#x017F;teht<lb/>
er unkenntlich und verwundet in philo&#x017F;ophi&#x017F;ch-<lb/>
barbari&#x017F;chen Hu&#x0364;llen. Jn der That, die Mu&#x0364;he<lb/>
i&#x017F;t nicht &#x017F;o leicht, immer den Gedanken zum<lb/>
Augenmerk zu haben, ihn von den Worten zu<lb/>
entkleiden, in denen wir ihn <hi rendition="#fr">kennen</hi>, aber<lb/>
nicht nackt <hi rendition="#fr">erkennen</hi>: ihn in das Licht der<lb/>
Deutlichkeit zu zaubern, daß jeder &#x017F;pricht:<lb/>
das i&#x017F;t er! und genau &#x017F;agen kann: warum<lb/>
ers i&#x017F;t?</p><lb/>
                <p>Man &#x017F;ieht auch, daß die&#x017F;er Weg zu phi-<lb/>
lo&#x017F;ophiren Schranken habe: denn es muß end-<lb/>
lich <hi rendition="#fr">unzergliederliche</hi> Begriffe geben, die von<lb/>
den <hi rendition="#fr">einfach&#x017F;ten</hi> Worten nicht mehr zu tren-<lb/>
nen &#x017F;ind, und deren muß es vermuthlich mehr<lb/>
als einen geben. Eine Schule der Weltwei-<lb/>
&#x017F;en glaubt, daß &#x017F;ich alles auf <hi rendition="#fr">Gedanke</hi>, und<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t der Begriff des <hi rendition="#fr">Seyns</hi> dahin zuru&#x0364;ck-<lb/>
leiten la&#x017F;&#x017F;e: dies &#x017F;ind ohn&#x017F;treitig die <hi rendition="#fr">Grund-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">&#x017F;teine</hi></fw><lb/></hi></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[111/0119] ſondern, in der man ihn zu ſehen gewoͤhne iſt, und von Jugend auf zu ſehen gewohnt war. Er ſtraͤubt ſich, und wenn wir ihn mit Gewalt entkleiden: ſo entwiſcht er, und laͤßt uns das Kleid in der Hand; oder wir verunſtalten ihn, haben ihm mit ſeinem Ge- wande zugleich ſeine Haut zerriſſen: da ſteht er unkenntlich und verwundet in philoſophiſch- barbariſchen Huͤllen. Jn der That, die Muͤhe iſt nicht ſo leicht, immer den Gedanken zum Augenmerk zu haben, ihn von den Worten zu entkleiden, in denen wir ihn kennen, aber nicht nackt erkennen: ihn in das Licht der Deutlichkeit zu zaubern, daß jeder ſpricht: das iſt er! und genau ſagen kann: warum ers iſt? Man ſieht auch, daß dieſer Weg zu phi- loſophiren Schranken habe: denn es muß end- lich unzergliederliche Begriffe geben, die von den einfachſten Worten nicht mehr zu tren- nen ſind, und deren muß es vermuthlich mehr als einen geben. Eine Schule der Weltwei- ſen glaubt, daß ſich alles auf Gedanke, und ſelbſt der Begriff des Seyns dahin zuruͤck- leiten laſſe: dies ſind ohnſtreitig die Grund- ſteine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/119
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/119>, abgerufen am 09.11.2024.