sondern, in der man ihn zu sehen gewöhne ist, und von Jugend auf zu sehen gewohnt war. Er sträubt sich, und wenn wir ihn mit Gewalt entkleiden: so entwischt er, und läßt uns das Kleid in der Hand; oder wir verunstalten ihn, haben ihm mit seinem Ge- wande zugleich seine Haut zerrissen: da steht er unkenntlich und verwundet in philosophisch- barbarischen Hüllen. Jn der That, die Mühe ist nicht so leicht, immer den Gedanken zum Augenmerk zu haben, ihn von den Worten zu entkleiden, in denen wir ihn kennen, aber nicht nackt erkennen: ihn in das Licht der Deutlichkeit zu zaubern, daß jeder spricht: das ist er! und genau sagen kann: warum ers ist?
Man sieht auch, daß dieser Weg zu phi- losophiren Schranken habe: denn es muß end- lich unzergliederliche Begriffe geben, die von den einfachsten Worten nicht mehr zu tren- nen sind, und deren muß es vermuthlich mehr als einen geben. Eine Schule der Weltwei- sen glaubt, daß sich alles auf Gedanke, und selbst der Begriff des Seyns dahin zurück- leiten lasse: dies sind ohnstreitig die Grund-
steine
ſondern, in der man ihn zu ſehen gewoͤhne iſt, und von Jugend auf zu ſehen gewohnt war. Er ſtraͤubt ſich, und wenn wir ihn mit Gewalt entkleiden: ſo entwiſcht er, und laͤßt uns das Kleid in der Hand; oder wir verunſtalten ihn, haben ihm mit ſeinem Ge- wande zugleich ſeine Haut zerriſſen: da ſteht er unkenntlich und verwundet in philoſophiſch- barbariſchen Huͤllen. Jn der That, die Muͤhe iſt nicht ſo leicht, immer den Gedanken zum Augenmerk zu haben, ihn von den Worten zu entkleiden, in denen wir ihn kennen, aber nicht nackt erkennen: ihn in das Licht der Deutlichkeit zu zaubern, daß jeder ſpricht: das iſt er! und genau ſagen kann: warum ers iſt?
Man ſieht auch, daß dieſer Weg zu phi- loſophiren Schranken habe: denn es muß end- lich unzergliederliche Begriffe geben, die von den einfachſten Worten nicht mehr zu tren- nen ſind, und deren muß es vermuthlich mehr als einen geben. Eine Schule der Weltwei- ſen glaubt, daß ſich alles auf Gedanke, und ſelbſt der Begriff des Seyns dahin zuruͤck- leiten laſſe: dies ſind ohnſtreitig die Grund-
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ſondern, in der man ihn zu ſehen gewoͤhne
iſt, und von Jugend auf zu ſehen gewohnt
war. Er ſtraͤubt ſich, und wenn wir ihn
mit Gewalt entkleiden: ſo entwiſcht er, und
laͤßt uns das Kleid in der Hand; oder wir
verunſtalten ihn, haben ihm mit ſeinem Ge-
wande zugleich ſeine Haut zerriſſen: da ſteht
er unkenntlich und verwundet in philoſophiſch-
barbariſchen Huͤllen. Jn der That, die Muͤhe
iſt nicht ſo leicht, immer den Gedanken zum
Augenmerk zu haben, ihn von den Worten zu
entkleiden, in denen wir ihn kennen, aber
nicht nackt erkennen: ihn in das Licht der
Deutlichkeit zu zaubern, daß jeder ſpricht:
das iſt er! und genau ſagen kann: warum
ers iſt?
Man ſieht auch, daß dieſer Weg zu phi-
loſophiren Schranken habe: denn es muß end-
lich unzergliederliche Begriffe geben, die von
den einfachſten Worten nicht mehr zu tren-
nen ſind, und deren muß es vermuthlich mehr
als einen geben. Eine Schule der Weltwei-
ſen glaubt, daß ſich alles auf Gedanke, und
ſelbſt der Begriff des Seyns dahin zuruͤck-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/119>, abgerufen am 21.11.2024.
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