Wenn die Dichtkunst für den Verstand redet, durch die Fabel, von der Aesop der Urheber ist: so kann ja die Mythologie han- delnde Subjekte liefern, die uns in einem einzelnen Fall, der als würklich vorgestel- let wird, einen gewissen allgemeinen Satz anschauend erkennen lassen: und warum sollte sie nicht die Quelle mancher Fabeln seyn können. Wenn man einige Geschichten aus Bacons Weisheit der Alten von der gar zu vielen Kunst entkleidete, die er tief- sinnig in sie legte -- wenn man sie aus der Demmerung der Allegorie, in der sie bei ihm stehen, mit dem Licht einer Geschichte völlig bekleidete: so würden doch wohl einige so schöne Fabeln daraus, als Leßings 5te im Isten Buche, seine 10te 18te 23ste 28ste im zweiten: und diese so schöne Fabeln will mir der Kunstrichter rauben, die unter den Les- singschen gewiß zu den besten gehören? wie viele werden wir aus Gellert, Gleim, Hage- dorn, Lichtwehr verlieren? Hier sind ja die mythologischen Personen nicht leere Schälle, sondern handelnde Wesen, nicht bloße Na- men, sondern Wesen von einem beständigen
Chara-
Wenn die Dichtkunſt fuͤr den Verſtand redet, durch die Fabel, von der Aeſop der Urheber iſt: ſo kann ja die Mythologie han- delnde Subjekte liefern, die uns in einem einzelnen Fall, der als wuͤrklich vorgeſtel- let wird, einen gewiſſen allgemeinen Satz anſchauend erkennen laſſen: und warum ſollte ſie nicht die Quelle mancher Fabeln ſeyn koͤnnen. Wenn man einige Geſchichten aus Bacons Weisheit der Alten von der gar zu vielen Kunſt entkleidete, die er tief- ſinnig in ſie legte — wenn man ſie aus der Demmerung der Allegorie, in der ſie bei ihm ſtehen, mit dem Licht einer Geſchichte voͤllig bekleidete: ſo wuͤrden doch wohl einige ſo ſchoͤne Fabeln daraus, als Leßings 5te im Iſten Buche, ſeine 10te 18te 23ſte 28ſte im zweiten: und dieſe ſo ſchoͤne Fabeln will mir der Kunſtrichter rauben, die unter den Leſ- ſingſchen gewiß zu den beſten gehoͤren? wie viele werden wir aus Gellert, Gleim, Hage- dorn, Lichtwehr verlieren? Hier ſind ja die mythologiſchen Perſonen nicht leere Schaͤlle, ſondern handelnde Weſen, nicht bloße Na- men, ſondern Weſen von einem beſtaͤndigen
Chara-
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Wenn die Dichtkunſt fuͤr den Verſtand
redet, durch die Fabel, von der Aeſop der
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delnde Subjekte liefern, die uns in einem
einzelnen Fall, der als wuͤrklich vorgeſtel-
let wird, einen gewiſſen allgemeinen Satz
anſchauend erkennen laſſen: und warum
ſollte ſie nicht die Quelle mancher Fabeln
ſeyn koͤnnen. Wenn man einige Geſchichten
aus Bacons Weisheit der Alten von der
gar zu vielen Kunſt entkleidete, die er tief-
ſinnig in ſie legte — wenn man ſie aus der
Demmerung der Allegorie, in der ſie bei
ihm ſtehen, mit dem Licht einer Geſchichte
voͤllig bekleidete: ſo wuͤrden doch wohl einige
ſo ſchoͤne Fabeln daraus, als Leßings 5te im
Iſten Buche, ſeine 10te 18te 23ſte 28ſte im
zweiten: und dieſe ſo ſchoͤne Fabeln will mir
der Kunſtrichter rauben, die unter den Leſ-
ſingſchen gewiß zu den beſten gehoͤren? wie
viele werden wir aus Gellert, Gleim, Hage-
dorn, Lichtwehr verlieren? Hier ſind ja die
mythologiſchen Perſonen nicht leere Schaͤlle,
ſondern handelnde Weſen, nicht bloße Na-
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/147>, abgerufen am 09.11.2024.
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