Wenn die Dichtkunst für Vernunft redet: so ist das Ganze ihres Jnhalts Wahrheit: was sie dazu thut, sind blos kleine Auszie- rungen, und Schnitzwerk: das Allgemeine ist ihrem Gebiet gleichsam entnommen. Da ich unsre geistliche Gedichte gleich ausgeschlos- sen: so bleiben mir hier philosophische Lehr- gedichte übrig; in diesen kann nie die My- thologie mehr als Schmuck und Erläute- rung seyn, ohne zur Bildung des Ganzen was beitragen zu wollen. Allein, in dem an- gezeigten engen Gesichtspunkte, wer wollte sie ausschließen? Wird sie blos zu verdun- kelnden Anspielungen angewandt; so ist sie verwerflich -- aber zu Beispielen, zu Vergleichungen, zu einzelnen Bildern, da betrachte ich sie auf dem Rande der Ge- schichte, als eine Quelle von poetischen Exempeln: (würde ich historische Wahrheit immer verlangen; so könnte ich ja auch we- nig aus der alten Geschichte, die immer halb Fabel ist, anführen,) prächtigen Farben, und redenden Bildern: und hier lasse ich sie mir nicht nehmen.
Wenn
Wenn die Dichtkunſt fuͤr Vernunft redet: ſo iſt das Ganze ihres Jnhalts Wahrheit: was ſie dazu thut, ſind blos kleine Auszie- rungen, und Schnitzwerk: das Allgemeine iſt ihrem Gebiet gleichſam entnommen. Da ich unſre geiſtliche Gedichte gleich ausgeſchloſ- ſen: ſo bleiben mir hier philoſophiſche Lehr- gedichte uͤbrig; in dieſen kann nie die My- thologie mehr als Schmuck und Erlaͤute- rung ſeyn, ohne zur Bildung des Ganzen was beitragen zu wollen. Allein, in dem an- gezeigten engen Geſichtspunkte, wer wollte ſie ausſchließen? Wird ſie blos zu verdun- kelnden Anſpielungen angewandt; ſo iſt ſie verwerflich — aber zu Beiſpielen, zu Vergleichungen, zu einzelnen Bildern, da betrachte ich ſie auf dem Rande der Ge- ſchichte, als eine Quelle von poetiſchen Exempeln: (wuͤrde ich hiſtoriſche Wahrheit immer verlangen; ſo koͤnnte ich ja auch we- nig aus der alten Geſchichte, die immer halb Fabel iſt, anfuͤhren,) praͤchtigen Farben, und redenden Bildern: und hier laſſe ich ſie mir nicht nehmen.
Wenn
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Wenn die Dichtkunſt fuͤr Vernunft redet:
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rungen, und Schnitzwerk: das Allgemeine
iſt ihrem Gebiet gleichſam entnommen. Da
ich unſre geiſtliche Gedichte gleich ausgeſchloſ-
ſen: ſo bleiben mir hier philoſophiſche Lehr-
gedichte uͤbrig; in dieſen kann nie die My-
thologie mehr als Schmuck und Erlaͤute-
rung ſeyn, ohne zur Bildung des Ganzen
was beitragen zu wollen. Allein, in dem an-
gezeigten engen Geſichtspunkte, wer wollte
ſie ausſchließen? Wird ſie blos zu verdun-
kelnden Anſpielungen angewandt; ſo iſt ſie
verwerflich — aber zu Beiſpielen, zu
Vergleichungen, zu einzelnen Bildern,
da betrachte ich ſie auf dem Rande der Ge-
ſchichte, als eine Quelle von poetiſchen
Exempeln: (wuͤrde ich hiſtoriſche Wahrheit
immer verlangen; ſo koͤnnte ich ja auch we-
nig aus der alten Geſchichte, die immer
halb Fabel iſt, anfuͤhren,) praͤchtigen Farben,
und redenden Bildern: und hier laſſe ich ſie
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/146>, abgerufen am 21.11.2024.
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