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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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rufen: in his versibus nil est, praeter inanem
verborum sonum, quibus nulla subiecta
sententia!
Auch nicht! denn eben dazu ist ja
das Epigramm erfunden, um hinter bekann-
te, und poetischansehnliche Personen eine Sen-
tenz unterzuschieben. Freilich wäre zu Ho-
raz und Virgils Zeiten dies Epigramm pas-
sender gewesen, aber warum? aus einer Ne-
benursache, weil Jupiter und Neptun da-
mals Götter waren, denen man glaubte, und
die man durchgängig kannte: das Epigramm
hätte damals also Religions- und historische
Wahrheit erhalten, und wäre feierlicher ge-
wesen, weil jeder Leser viele hohe poetische
Nebenbegriffe sich dachte. Jetzt wird freilich
Neptun und Jupiter verlacht, so bald sie als
Zeugen auftreten: man glaubt ihnen ihren
Ausspruch eben so wenig, als dem Sannazar
selbst. Was thut aber dies hier? legt San-
nazar dies den Göttern in den Mund, um
seinem Sazze durch ihren Ausspruch Ge-
wicht der Glaubwürdigkeit
zu geben: so
ist er ein Narr! bezahlte ihn Venedig so
theuer, weil es glaubte, ihre Größe würde
in dem Munde der Götter unwidersprechlich:

so

rufen: in his verſibus nil eſt, praeter inanem
verborum ſonum, quibus nulla ſubiecta
ſententia!
Auch nicht! denn eben dazu iſt ja
das Epigramm erfunden, um hinter bekann-
te, und poetiſchanſehnliche Perſonen eine Sen-
tenz unterzuſchieben. Freilich waͤre zu Ho-
raz und Virgils Zeiten dies Epigramm paſ-
ſender geweſen, aber warum? aus einer Ne-
benurſache, weil Jupiter und Neptun da-
mals Goͤtter waren, denen man glaubte, und
die man durchgaͤngig kannte: das Epigramm
haͤtte damals alſo Religions- und hiſtoriſche
Wahrheit erhalten, und waͤre feierlicher ge-
weſen, weil jeder Leſer viele hohe poetiſche
Nebenbegriffe ſich dachte. Jetzt wird freilich
Neptun und Jupiter verlacht, ſo bald ſie als
Zeugen auftreten: man glaubt ihnen ihren
Ausſpruch eben ſo wenig, als dem Sannazar
ſelbſt. Was thut aber dies hier? legt San-
nazar dies den Goͤttern in den Mund, um
ſeinem Sazze durch ihren Ausſpruch Ge-
wicht der Glaubwuͤrdigkeit
zu geben: ſo
iſt er ein Narr! bezahlte ihn Venedig ſo
theuer, weil es glaubte, ihre Groͤße wuͤrde
in dem Munde der Goͤtter unwiderſprechlich:

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[141/0149] rufen: in his verſibus nil eſt, praeter inanem verborum ſonum, quibus nulla ſubiecta ſententia! Auch nicht! denn eben dazu iſt ja das Epigramm erfunden, um hinter bekann- te, und poetiſchanſehnliche Perſonen eine Sen- tenz unterzuſchieben. Freilich waͤre zu Ho- raz und Virgils Zeiten dies Epigramm paſ- ſender geweſen, aber warum? aus einer Ne- benurſache, weil Jupiter und Neptun da- mals Goͤtter waren, denen man glaubte, und die man durchgaͤngig kannte: das Epigramm haͤtte damals alſo Religions- und hiſtoriſche Wahrheit erhalten, und waͤre feierlicher ge- weſen, weil jeder Leſer viele hohe poetiſche Nebenbegriffe ſich dachte. Jetzt wird freilich Neptun und Jupiter verlacht, ſo bald ſie als Zeugen auftreten: man glaubt ihnen ihren Ausſpruch eben ſo wenig, als dem Sannazar ſelbſt. Was thut aber dies hier? legt San- nazar dies den Goͤttern in den Mund, um ſeinem Sazze durch ihren Ausſpruch Ge- wicht der Glaubwuͤrdigkeit zu geben: ſo iſt er ein Narr! bezahlte ihn Venedig ſo theuer, weil es glaubte, ihre Groͤße wuͤrde in dem Munde der Goͤtter unwiderſprechlich: ſo

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/149>, abgerufen am 21.11.2024.