rufen: in his versibus nil est, praeter inanem verborum sonum, quibus nulla subiecta sententia! Auch nicht! denn eben dazu ist ja das Epigramm erfunden, um hinter bekann- te, und poetischansehnliche Personen eine Sen- tenz unterzuschieben. Freilich wäre zu Ho- raz und Virgils Zeiten dies Epigramm pas- sender gewesen, aber warum? aus einer Ne- benursache, weil Jupiter und Neptun da- mals Götter waren, denen man glaubte, und die man durchgängig kannte: das Epigramm hätte damals also Religions- und historische Wahrheit erhalten, und wäre feierlicher ge- wesen, weil jeder Leser viele hohe poetische Nebenbegriffe sich dachte. Jetzt wird freilich Neptun und Jupiter verlacht, so bald sie als Zeugen auftreten: man glaubt ihnen ihren Ausspruch eben so wenig, als dem Sannazar selbst. Was thut aber dies hier? legt San- nazar dies den Göttern in den Mund, um seinem Sazze durch ihren Ausspruch Ge- wicht der Glaubwürdigkeit zu geben: so ist er ein Narr! bezahlte ihn Venedig so theuer, weil es glaubte, ihre Größe würde in dem Munde der Götter unwidersprechlich:
so
rufen: in his verſibus nil eſt, praeter inanem verborum ſonum, quibus nulla ſubiecta ſententia! Auch nicht! denn eben dazu iſt ja das Epigramm erfunden, um hinter bekann- te, und poetiſchanſehnliche Perſonen eine Sen- tenz unterzuſchieben. Freilich waͤre zu Ho- raz und Virgils Zeiten dies Epigramm paſ- ſender geweſen, aber warum? aus einer Ne- benurſache, weil Jupiter und Neptun da- mals Goͤtter waren, denen man glaubte, und die man durchgaͤngig kannte: das Epigramm haͤtte damals alſo Religions- und hiſtoriſche Wahrheit erhalten, und waͤre feierlicher ge- weſen, weil jeder Leſer viele hohe poetiſche Nebenbegriffe ſich dachte. Jetzt wird freilich Neptun und Jupiter verlacht, ſo bald ſie als Zeugen auftreten: man glaubt ihnen ihren Ausſpruch eben ſo wenig, als dem Sannazar ſelbſt. Was thut aber dies hier? legt San- nazar dies den Goͤttern in den Mund, um ſeinem Sazze durch ihren Ausſpruch Ge- wicht der Glaubwuͤrdigkeit zu geben: ſo iſt er ein Narr! bezahlte ihn Venedig ſo theuer, weil es glaubte, ihre Groͤße wuͤrde in dem Munde der Goͤtter unwiderſprechlich:
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rufen: in his verſibus nil eſt, praeter inanem
verborum ſonum, quibus nulla ſubiecta
ſententia! Auch nicht! denn eben dazu iſt ja
das Epigramm erfunden, um hinter bekann-
te, und poetiſchanſehnliche Perſonen eine Sen-
tenz unterzuſchieben. Freilich waͤre zu Ho-
raz und Virgils Zeiten dies Epigramm paſ-
ſender geweſen, aber warum? aus einer Ne-
benurſache, weil Jupiter und Neptun da-
mals Goͤtter waren, denen man glaubte, und
die man durchgaͤngig kannte: das Epigramm
haͤtte damals alſo Religions- und hiſtoriſche
Wahrheit erhalten, und waͤre feierlicher ge-
weſen, weil jeder Leſer viele hohe poetiſche
Nebenbegriffe ſich dachte. Jetzt wird freilich
Neptun und Jupiter verlacht, ſo bald ſie als
Zeugen auftreten: man glaubt ihnen ihren
Ausſpruch eben ſo wenig, als dem Sannazar
ſelbſt. Was thut aber dies hier? legt San-
nazar dies den Goͤttern in den Mund, um
ſeinem Sazze durch ihren Ausſpruch Ge-
wicht der Glaubwuͤrdigkeit zu geben: ſo
iſt er ein Narr! bezahlte ihn Venedig ſo
theuer, weil es glaubte, ihre Groͤße wuͤrde
in dem Munde der Goͤtter unwiderſprechlich:
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/149>, abgerufen am 21.11.2024.
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