Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

sen, das ist leichter; das erhebt über Nach-
ahmer, und zeichnet den Dichter. Man wen-
de die alten Bilder und Geschichte auf nähere
Vorfälle an: legt in sie einen neuen poeti-
schen Sinn, verändert sie hier und da, um
einen neuen Zweck zu erreichen; verbindet
und trennet, führt fort und lenket seitwärts,
geht zurück, oder steht stille, um alles blos als
Hausgeräth zu seiner Nothdurst, Bequemlich-
keit und Auszierung nach seiner Absicht, und
der Mode seiner Zeit, als Hausherr und Be-
sitzer zu brauchen.



6.

Was? höre ich hier einen Kunstrichter ent-
gegen rufen: "daraus werden mythologische
"Unwahrheiten: z. E. nun darf Sysiphus
"schlafen, Tantalus trinken
u. s. w. Diese
"Fabeln haben in der Mythologie einmal ih-
"ren gewissen Standpunkt, und ihn umdre-
"hen wollen, heißt das System der Mytho-
"logie niederreißen. Sie werden an keinem

"ein-

ſen, das iſt leichter; das erhebt uͤber Nach-
ahmer, und zeichnet den Dichter. Man wen-
de die alten Bilder und Geſchichte auf naͤhere
Vorfaͤlle an: legt in ſie einen neuen poeti-
ſchen Sinn, veraͤndert ſie hier und da, um
einen neuen Zweck zu erreichen; verbindet
und trennet, fuͤhrt fort und lenket ſeitwaͤrts,
geht zuruͤck, oder ſteht ſtille, um alles blos als
Hausgeraͤth zu ſeiner Nothdurſt, Bequemlich-
keit und Auszierung nach ſeiner Abſicht, und
der Mode ſeiner Zeit, als Hausherr und Be-
ſitzer zu brauchen.



6.

Was? hoͤre ich hier einen Kunſtrichter ent-
gegen rufen: „daraus werden mythologiſche
„Unwahrheiten: z. E. nun darf Syſiphus
„ſchlafen, Tantalus trinken
u. ſ. w. Dieſe
„Fabeln haben in der Mythologie einmal ih-
„ren gewiſſen Standpunkt, und ihn umdre-
„hen wollen, heißt das Syſtem der Mytho-
„logie niederreißen. Sie werden an keinem

„ein-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0167" n="159"/>
&#x017F;en, das i&#x017F;t leichter; das erhebt u&#x0364;ber Nach-<lb/>
ahmer, und zeichnet den Dichter. Man wen-<lb/>
de die alten Bilder und Ge&#x017F;chichte auf na&#x0364;here<lb/>
Vorfa&#x0364;lle an: legt in &#x017F;ie einen neuen poeti-<lb/>
&#x017F;chen Sinn, vera&#x0364;ndert &#x017F;ie hier und da, um<lb/>
einen neuen Zweck zu erreichen; verbindet<lb/>
und trennet, fu&#x0364;hrt fort und lenket &#x017F;eitwa&#x0364;rts,<lb/>
geht zuru&#x0364;ck, oder &#x017F;teht &#x017F;tille, um alles blos als<lb/>
Hausgera&#x0364;th zu &#x017F;einer Nothdur&#x017F;t, Bequemlich-<lb/>
keit und Auszierung nach &#x017F;einer Ab&#x017F;icht, und<lb/>
der Mode &#x017F;einer Zeit, als Hausherr und Be-<lb/>
&#x017F;itzer zu brauchen.</p>
              </div><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
              <div n="5">
                <head> <hi rendition="#b">6.</hi> </head><lb/>
                <p><hi rendition="#in">W</hi>as? ho&#x0364;re ich hier einen Kun&#x017F;trichter ent-<lb/>
gegen rufen: &#x201E;daraus werden mythologi&#x017F;che<lb/>
&#x201E;Unwahrheiten: z. E. <hi rendition="#fr">nun darf Sy&#x017F;iphus<lb/>
&#x201E;&#x017F;chlafen, Tantalus trinken</hi> u. &#x017F;. w. Die&#x017F;e<lb/>
&#x201E;Fabeln haben in der Mythologie einmal ih-<lb/>
&#x201E;ren gewi&#x017F;&#x017F;en Standpunkt, und ihn umdre-<lb/>
&#x201E;hen wollen, heißt das Sy&#x017F;tem der Mytho-<lb/>
&#x201E;logie niederreißen. Sie werden an keinem<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x201E;ein-</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0167] ſen, das iſt leichter; das erhebt uͤber Nach- ahmer, und zeichnet den Dichter. Man wen- de die alten Bilder und Geſchichte auf naͤhere Vorfaͤlle an: legt in ſie einen neuen poeti- ſchen Sinn, veraͤndert ſie hier und da, um einen neuen Zweck zu erreichen; verbindet und trennet, fuͤhrt fort und lenket ſeitwaͤrts, geht zuruͤck, oder ſteht ſtille, um alles blos als Hausgeraͤth zu ſeiner Nothdurſt, Bequemlich- keit und Auszierung nach ſeiner Abſicht, und der Mode ſeiner Zeit, als Hausherr und Be- ſitzer zu brauchen. 6. Was? hoͤre ich hier einen Kunſtrichter ent- gegen rufen: „daraus werden mythologiſche „Unwahrheiten: z. E. nun darf Syſiphus „ſchlafen, Tantalus trinken u. ſ. w. Dieſe „Fabeln haben in der Mythologie einmal ih- „ren gewiſſen Standpunkt, und ihn umdre- „hen wollen, heißt das Syſtem der Mytho- „logie niederreißen. Sie werden an keinem „ein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/167
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/167>, abgerufen am 19.05.2024.