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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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philosophischen noch dichterischen Größe er-
fodert. Der wahre Geist der Weltweis-
heit
an sich leidet kein beinahe Wahres,
kein halbgründliches; und unsere philosophi-
sche Wizlinge, die uns Schaum der Welt-
weisheit mit dem Goldschaum der Aesthetik
überdeckt, verkaufen, sehen zwar, daß ihre
Philosophie im Anfange siedet, und von Kin-
dern und Narren, (die aber diesmal nicht die
Wahrheit reden,) gelobt wird - aber Schaum
und Philosophie zergeht, und ist nicht mehr! -
Laß diese das philosophische Lehrgedicht wäh-
len, den Reihn zwischen Philosophie und
Einbildungskraft: sie werden vielleicht gut
werden! -- Auf der andern Seite gibt es
schöne Geister, die zu viel Philosophie an
unrechtem, und zu wenig poetisches Genie an
rechtem Ort haben: die uns in Fabeln und
Erzählungen, in traurigen Lust- und erbärm-
lichen Trauerspielen mit seichter Weltweisheit
quälen -- auch diesen gebe man das Lehr-
gedicht
vor: denn die Epopee, das Drama,
die Ode, und jede Erdichtung fodert Schö-
pfungsgeist im Ganzen, und kann kein bei-
nahe Schönes
leiden; aber das Lehrgedicht

leidet
O 2

philoſophiſchen noch dichteriſchen Groͤße er-
fodert. Der wahre Geiſt der Weltweis-
heit
an ſich leidet kein beinahe Wahres,
kein halbgruͤndliches; und unſere philoſophi-
ſche Wizlinge, die uns Schaum der Welt-
weisheit mit dem Goldſchaum der Aeſthetik
uͤberdeckt, verkaufen, ſehen zwar, daß ihre
Philoſophie im Anfange ſiedet, und von Kin-
dern und Narren, (die aber diesmal nicht die
Wahrheit reden,) gelobt wird – aber Schaum
und Philoſophie zergeht, und iſt nicht mehr! –
Laß dieſe das philoſophiſche Lehrgedicht waͤh-
len, den Reihn zwiſchen Philoſophie und
Einbildungskraft: ſie werden vielleicht gut
werden! — Auf der andern Seite gibt es
ſchoͤne Geiſter, die zu viel Philoſophie an
unrechtem, und zu wenig poetiſches Genie an
rechtem Ort haben: die uns in Fabeln und
Erzaͤhlungen, in traurigen Luſt- und erbaͤrm-
lichen Trauerſpielen mit ſeichter Weltweisheit
quaͤlen — auch dieſen gebe man das Lehr-
gedicht
vor: denn die Epopee, das Drama,
die Ode, und jede Erdichtung fodert Schoͤ-
pfungsgeiſt im Ganzen, und kann kein bei-
nahe Schoͤnes
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leidet
O 2
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[211/0219] philoſophiſchen noch dichteriſchen Groͤße er- fodert. Der wahre Geiſt der Weltweis- heit an ſich leidet kein beinahe Wahres, kein halbgruͤndliches; und unſere philoſophi- ſche Wizlinge, die uns Schaum der Welt- weisheit mit dem Goldſchaum der Aeſthetik uͤberdeckt, verkaufen, ſehen zwar, daß ihre Philoſophie im Anfange ſiedet, und von Kin- dern und Narren, (die aber diesmal nicht die Wahrheit reden,) gelobt wird – aber Schaum und Philoſophie zergeht, und iſt nicht mehr! – Laß dieſe das philoſophiſche Lehrgedicht waͤh- len, den Reihn zwiſchen Philoſophie und Einbildungskraft: ſie werden vielleicht gut werden! — Auf der andern Seite gibt es ſchoͤne Geiſter, die zu viel Philoſophie an unrechtem, und zu wenig poetiſches Genie an rechtem Ort haben: die uns in Fabeln und Erzaͤhlungen, in traurigen Luſt- und erbaͤrm- lichen Trauerſpielen mit ſeichter Weltweisheit quaͤlen — auch dieſen gebe man das Lehr- gedicht vor: denn die Epopee, das Drama, die Ode, und jede Erdichtung fodert Schoͤ- pfungsgeiſt im Ganzen, und kann kein bei- nahe Schoͤnes leiden; aber das Lehrgedicht leidet O 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/219>, abgerufen am 21.11.2024.