philosophischen noch dichterischen Größe er- fodert. Der wahre Geist der Weltweis- heit an sich leidet kein beinahe Wahres, kein halbgründliches; und unsere philosophi- sche Wizlinge, die uns Schaum der Welt- weisheit mit dem Goldschaum der Aesthetik überdeckt, verkaufen, sehen zwar, daß ihre Philosophie im Anfange siedet, und von Kin- dern und Narren, (die aber diesmal nicht die Wahrheit reden,) gelobt wird - aber Schaum und Philosophie zergeht, und ist nicht mehr! - Laß diese das philosophische Lehrgedicht wäh- len, den Reihn zwischen Philosophie und Einbildungskraft: sie werden vielleicht gut werden! -- Auf der andern Seite gibt es schöne Geister, die zu viel Philosophie an unrechtem, und zu wenig poetisches Genie an rechtem Ort haben: die uns in Fabeln und Erzählungen, in traurigen Lust- und erbärm- lichen Trauerspielen mit seichter Weltweisheit quälen -- auch diesen gebe man das Lehr- gedicht vor: denn die Epopee, das Drama, die Ode, und jede Erdichtung fodert Schö- pfungsgeist im Ganzen, und kann kein bei- nahe Schönes leiden; aber das Lehrgedicht
leidet
O 2
philoſophiſchen noch dichteriſchen Groͤße er- fodert. Der wahre Geiſt der Weltweis- heit an ſich leidet kein beinahe Wahres, kein halbgruͤndliches; und unſere philoſophi- ſche Wizlinge, die uns Schaum der Welt- weisheit mit dem Goldſchaum der Aeſthetik uͤberdeckt, verkaufen, ſehen zwar, daß ihre Philoſophie im Anfange ſiedet, und von Kin- dern und Narren, (die aber diesmal nicht die Wahrheit reden,) gelobt wird – aber Schaum und Philoſophie zergeht, und iſt nicht mehr! – Laß dieſe das philoſophiſche Lehrgedicht waͤh- len, den Reihn zwiſchen Philoſophie und Einbildungskraft: ſie werden vielleicht gut werden! — Auf der andern Seite gibt es ſchoͤne Geiſter, die zu viel Philoſophie an unrechtem, und zu wenig poetiſches Genie an rechtem Ort haben: die uns in Fabeln und Erzaͤhlungen, in traurigen Luſt- und erbaͤrm- lichen Trauerſpielen mit ſeichter Weltweisheit quaͤlen — auch dieſen gebe man das Lehr- gedicht vor: denn die Epopee, das Drama, die Ode, und jede Erdichtung fodert Schoͤ- pfungsgeiſt im Ganzen, und kann kein bei- nahe Schoͤnes leiden; aber das Lehrgedicht
leidet
O 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0219"n="211"/>
philoſophiſchen noch dichteriſchen Groͤße er-<lb/>
fodert. Der wahre Geiſt der <hirendition="#fr">Weltweis-<lb/>
heit</hi> an ſich leidet kein <hirendition="#fr">beinahe Wahres,</hi><lb/>
kein halbgruͤndliches; und unſere philoſophi-<lb/>ſche <hirendition="#fr">Wizlinge,</hi> die uns Schaum der Welt-<lb/>
weisheit mit dem Goldſchaum der Aeſthetik<lb/>
uͤberdeckt, verkaufen, ſehen zwar, daß ihre<lb/>
Philoſophie im Anfange ſiedet, und von Kin-<lb/>
dern und Narren, (die aber diesmal nicht die<lb/>
Wahrheit reden,) gelobt wird – aber Schaum<lb/>
und Philoſophie zergeht, und iſt nicht mehr! –<lb/>
Laß dieſe das philoſophiſche Lehrgedicht waͤh-<lb/>
len, den Reihn zwiſchen Philoſophie und<lb/>
Einbildungskraft: ſie werden vielleicht gut<lb/>
werden! — Auf der andern Seite gibt es<lb/>ſchoͤne Geiſter, die zu viel Philoſophie an<lb/>
unrechtem, und zu wenig poetiſches Genie an<lb/>
rechtem Ort haben: die uns in Fabeln und<lb/>
Erzaͤhlungen, in traurigen Luſt- und erbaͤrm-<lb/>
lichen Trauerſpielen mit ſeichter Weltweisheit<lb/>
quaͤlen — auch dieſen gebe man das <hirendition="#fr">Lehr-<lb/>
gedicht</hi> vor: denn die <hirendition="#fr">Epopee,</hi> das <hirendition="#fr">Drama,</hi><lb/>
die <hirendition="#fr">Ode,</hi> und jede <hirendition="#fr">Erdichtung</hi> fodert Schoͤ-<lb/>
pfungsgeiſt im Ganzen, und kann <hirendition="#fr">kein bei-<lb/>
nahe Schoͤnes</hi> leiden; aber das Lehrgedicht<lb/><fwplace="bottom"type="sig">O 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">leidet</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[211/0219]
philoſophiſchen noch dichteriſchen Groͤße er-
fodert. Der wahre Geiſt der Weltweis-
heit an ſich leidet kein beinahe Wahres,
kein halbgruͤndliches; und unſere philoſophi-
ſche Wizlinge, die uns Schaum der Welt-
weisheit mit dem Goldſchaum der Aeſthetik
uͤberdeckt, verkaufen, ſehen zwar, daß ihre
Philoſophie im Anfange ſiedet, und von Kin-
dern und Narren, (die aber diesmal nicht die
Wahrheit reden,) gelobt wird – aber Schaum
und Philoſophie zergeht, und iſt nicht mehr! –
Laß dieſe das philoſophiſche Lehrgedicht waͤh-
len, den Reihn zwiſchen Philoſophie und
Einbildungskraft: ſie werden vielleicht gut
werden! — Auf der andern Seite gibt es
ſchoͤne Geiſter, die zu viel Philoſophie an
unrechtem, und zu wenig poetiſches Genie an
rechtem Ort haben: die uns in Fabeln und
Erzaͤhlungen, in traurigen Luſt- und erbaͤrm-
lichen Trauerſpielen mit ſeichter Weltweisheit
quaͤlen — auch dieſen gebe man das Lehr-
gedicht vor: denn die Epopee, das Drama,
die Ode, und jede Erdichtung fodert Schoͤ-
pfungsgeiſt im Ganzen, und kann kein bei-
nahe Schoͤnes leiden; aber das Lehrgedicht
leidet
O 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/219>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.