leidet noch zuerst die Lieblingswendung so vie- ler deutschen Vorreden:
vbi plura nitent in carmine, non ego paucis offendar maculis. --
Dies fodert die wenigste Einbildungskraft, ist am wenigsten an Regeln gebunden, und vielleicht ist das freieste und leichteste Syl- benmaaß auch das angemessenste und einzige für das Lehrgedicht -- ich meine nicht das Alexandrinische, sondern das sogenannte Recitativmetrum, das sich am meisten der Prosa nähert, die meisten Formen annehmen kann, sich jeder Materie am besten anschlies- set, und die Aufmerksamkeit am füglichsten erhält.
Bisher habe ich einige Dichterlein mit dem Lehrgedicht abzufertigen, und im Vorhofe der Poesie aufzuhalten gesucht, damit sie, als Un- geweihte sich nicht ins Heilige wagten: jetzt lege ich einen Gegenstand vor, der ins Aller- heiligste der Dichtkunst gehört, und wie ich glaube, würdig ist, die ganze Seele eines Ge- nies allgnugsam auszufüllen: es ist zwar blos
ein
leidet noch zuerſt die Lieblingswendung ſo vie- ler deutſchen Vorreden:
vbi plura nitent in carmine, non ego paucis offendar maculis. —
Dies fodert die wenigſte Einbildungskraft, iſt am wenigſten an Regeln gebunden, und vielleicht iſt das freieſte und leichteſte Syl- benmaaß auch das angemeſſenſte und einzige fuͤr das Lehrgedicht — ich meine nicht das Alexandriniſche, ſondern das ſogenannte Recitativmetrum, das ſich am meiſten der Proſa naͤhert, die meiſten Formen annehmen kann, ſich jeder Materie am beſten anſchlieſ- ſet, und die Aufmerkſamkeit am fuͤglichſten erhaͤlt.
Bisher habe ich einige Dichterlein mit dem Lehrgedicht abzufertigen, und im Vorhofe der Poeſie aufzuhalten geſucht, damit ſie, als Un- geweihte ſich nicht ins Heilige wagten: jetzt lege ich einen Gegenſtand vor, der ins Aller- heiligſte der Dichtkunſt gehoͤrt, und wie ich glaube, wuͤrdig iſt, die ganze Seele eines Ge- nies allgnugſam auszufuͤllen: es iſt zwar blos
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[212/0220]
leidet noch zuerſt die Lieblingswendung ſo vie-
ler deutſchen Vorreden:
vbi plura nitent in carmine, non ego paucis
offendar maculis. —
Dies fodert die wenigſte Einbildungskraft,
iſt am wenigſten an Regeln gebunden, und
vielleicht iſt das freieſte und leichteſte Syl-
benmaaß auch das angemeſſenſte und einzige
fuͤr das Lehrgedicht — ich meine nicht das
Alexandriniſche, ſondern das ſogenannte
Recitativmetrum, das ſich am meiſten der
Proſa naͤhert, die meiſten Formen annehmen
kann, ſich jeder Materie am beſten anſchlieſ-
ſet, und die Aufmerkſamkeit am fuͤglichſten
erhaͤlt.
Bisher habe ich einige Dichterlein mit dem
Lehrgedicht abzufertigen, und im Vorhofe der
Poeſie aufzuhalten geſucht, damit ſie, als Un-
geweihte ſich nicht ins Heilige wagten: jetzt
lege ich einen Gegenſtand vor, der ins Aller-
heiligſte der Dichtkunſt gehoͤrt, und wie ich
glaube, wuͤrdig iſt, die ganze Seele eines Ge-
nies allgnugſam auszufuͤllen: es iſt zwar blos
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/220>, abgerufen am 24.11.2024.
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