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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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ein Lehrgedicht, aber ein Lehrgedicht, dem
selbst die epische, dramatische und lyrische
Muse zujauchzen würde. Laß es seyn, daß
die deutschen Lehrdichter unter das Mittel-
mäßige herabsinken, so bald sie sich zu den
Sitten der Länder und der einzelnen Menschen
herablassen. "Laß es seyn, daß sie nicht Kennt-
niß des menschlichen Herzens gnug hätten, um
Moral Essays zu schreiben:" ich zeige ihnen
ein Essay on Man an, wo sie sich in die Hö-
hen des Unermäßlichen emporschwingen, und
im zwiefachen Verstande Geistschöpfer durch
sich selbst
werden können.

Man weis es, daß die deutsche Weltwei-
sen, wenn in einem Stücke der Philosophie,
so in der Psychologie vorzüglich, gleichsam
auf eignen Grund und Boden sind, weil sie
die kühnen Blicke, die Plato, Baco und
Locke in die menschliche Seele gethan, weiter
verfolgt, oder wenigstens die Erfahrungen
dieser drei Männer wissenschaftlicher ge-
macht. Sie haben wenigstens Kunst und
Mühe angewandt, um die Materialien frem-
der Nationen zu einem Gebäude zu erheben,
dessen Bauart das merkwürdigste Phönome-

non
O 3

ein Lehrgedicht, aber ein Lehrgedicht, dem
ſelbſt die epiſche, dramatiſche und lyriſche
Muſe zujauchzen wuͤrde. Laß es ſeyn, daß
die deutſchen Lehrdichter unter das Mittel-
maͤßige herabſinken, ſo bald ſie ſich zu den
Sitten der Laͤnder und der einzelnen Menſchen
herablaſſen. „Laß es ſeyn, daß ſie nicht Kennt-
niß des menſchlichen Herzens gnug haͤtten, um
Moral Eſſays zu ſchreiben:„ ich zeige ihnen
ein Eſſay on Man an, wo ſie ſich in die Hoͤ-
hen des Unermaͤßlichen emporſchwingen, und
im zwiefachen Verſtande Geiſtſchoͤpfer durch
ſich ſelbſt
werden koͤnnen.

Man weis es, daß die deutſche Weltwei-
ſen, wenn in einem Stuͤcke der Philoſophie,
ſo in der Pſychologie vorzuͤglich, gleichſam
auf eignen Grund und Boden ſind, weil ſie
die kuͤhnen Blicke, die Plato, Baco und
Locke in die menſchliche Seele gethan, weiter
verfolgt, oder wenigſtens die Erfahrungen
dieſer drei Maͤnner wiſſenſchaftlicher ge-
macht. Sie haben wenigſtens Kunſt und
Muͤhe angewandt, um die Materialien frem-
der Nationen zu einem Gebaͤude zu erheben,
deſſen Bauart das merkwuͤrdigſte Phoͤnome-

non
O 3
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[213/0221] ein Lehrgedicht, aber ein Lehrgedicht, dem ſelbſt die epiſche, dramatiſche und lyriſche Muſe zujauchzen wuͤrde. Laß es ſeyn, daß die deutſchen Lehrdichter unter das Mittel- maͤßige herabſinken, ſo bald ſie ſich zu den Sitten der Laͤnder und der einzelnen Menſchen herablaſſen. „Laß es ſeyn, daß ſie nicht Kennt- niß des menſchlichen Herzens gnug haͤtten, um Moral Eſſays zu ſchreiben:„ ich zeige ihnen ein Eſſay on Man an, wo ſie ſich in die Hoͤ- hen des Unermaͤßlichen emporſchwingen, und im zwiefachen Verſtande Geiſtſchoͤpfer durch ſich ſelbſt werden koͤnnen. Man weis es, daß die deutſche Weltwei- ſen, wenn in einem Stuͤcke der Philoſophie, ſo in der Pſychologie vorzuͤglich, gleichſam auf eignen Grund und Boden ſind, weil ſie die kuͤhnen Blicke, die Plato, Baco und Locke in die menſchliche Seele gethan, weiter verfolgt, oder wenigſtens die Erfahrungen dieſer drei Maͤnner wiſſenſchaftlicher ge- macht. Sie haben wenigſtens Kunſt und Muͤhe angewandt, um die Materialien frem- der Nationen zu einem Gebaͤude zu erheben, deſſen Bauart das merkwuͤrdigſte Phoͤnome- non O 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/221>, abgerufen am 19.05.2024.