non der neuern Zeiten bleibt. -- Und was kann ich hieraus folgern? -- Dies, daß ein poetisches Gebäude von dieser Art eben- falls auch das Denkmaal unsres Volks und unsrer Zeit seyn könnte. Jn dem eigentlichen Spekulativen der Weltweisheit ist der Dichter immer ein Fremdling; man sage, was man will, er bleibt ein Gileaditer, der sich in diese platonische Republik einstiehlet, um Holz- hauer und Wasserträger zu seyn. Das Dich- terische, was der Lehrdichter, der Systeme reimt, behalten kann, um den Weltweisen nicht gleich für den Kopf zu stopfen, sind alte Schuh, und verschimmelt Brodt: und allen den Nutzen, den er dem Philosophen gibt, ist, daß er so viel von dem philosophischen Geist ihm raubt, als er ihm dichterischen gibt: eigentliche Bürger können sie nie zusammen werden.
Aber die philosophischen Ersahrungen, Muthmaßungen und Hypothesen über die menschliche Seele; -- die sind aller Stär- ke der Dichtkunst fähig, und aller ihrer Reize werth. An der Fähigkeit wird niemand zweifeln, und wenn zehn feige Kunstrichter
zitter-
non der neuern Zeiten bleibt. — Und was kann ich hieraus folgern? — Dies, daß ein poetiſches Gebaͤude von dieſer Art eben- falls auch das Denkmaal unſres Volks und unſrer Zeit ſeyn koͤnnte. Jn dem eigentlichen Spekulativen der Weltweisheit iſt der Dichter immer ein Fremdling; man ſage, was man will, er bleibt ein Gileaditer, der ſich in dieſe platoniſche Republik einſtiehlet, um Holz- hauer und Waſſertraͤger zu ſeyn. Das Dich- teriſche, was der Lehrdichter, der Syſteme reimt, behalten kann, um den Weltweiſen nicht gleich fuͤr den Kopf zu ſtopfen, ſind alte Schuh, und verſchimmelt Brodt: und allen den Nutzen, den er dem Philoſophen gibt, iſt, daß er ſo viel von dem philoſophiſchen Geiſt ihm raubt, als er ihm dichteriſchen gibt: eigentliche Buͤrger koͤnnen ſie nie zuſammen werden.
Aber die philoſophiſchen Erſahrungen, Muthmaßungen und Hypotheſen uͤber die menſchliche Seele; — die ſind aller Staͤr- ke der Dichtkunſt faͤhig, und aller ihrer Reize werth. An der Faͤhigkeit wird niemand zweifeln, und wenn zehn feige Kunſtrichter
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non der neuern Zeiten bleibt. — Und was
kann ich hieraus folgern? — Dies, daß ein
poetiſches Gebaͤude von dieſer Art eben-
falls auch das Denkmaal unſres Volks und
unſrer Zeit ſeyn koͤnnte. Jn dem eigentlichen
Spekulativen der Weltweisheit iſt der
Dichter immer ein Fremdling; man ſage, was
man will, er bleibt ein Gileaditer, der ſich in
dieſe platoniſche Republik einſtiehlet, um Holz-
hauer und Waſſertraͤger zu ſeyn. Das Dich-
teriſche, was der Lehrdichter, der Syſteme
reimt, behalten kann, um den Weltweiſen
nicht gleich fuͤr den Kopf zu ſtopfen, ſind alte
Schuh, und verſchimmelt Brodt: und allen
den Nutzen, den er dem Philoſophen gibt, iſt,
daß er ſo viel von dem philoſophiſchen Geiſt
ihm raubt, als er ihm dichteriſchen gibt:
eigentliche Buͤrger koͤnnen ſie nie zuſammen
werden.
Aber die philoſophiſchen Erſahrungen,
Muthmaßungen und Hypotheſen uͤber die
menſchliche Seele; — die ſind aller Staͤr-
ke der Dichtkunſt faͤhig, und aller ihrer Reize
werth. An der Faͤhigkeit wird niemand
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/222>, abgerufen am 16.02.2025.
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