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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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Zeit den Bildern ihre allzugroße Lebhaftigkeit
geraubt haben: die schwarzen Formen müssen
nicht mehr so gedrängt stehen, daß die Erin-
nerung nicht zugleich einige angenehme da-
zwischen stellen könnte. Eine Mutter, die
ihr einziges Kind verloren hat, sieht in den
ersten Tagen nichts vor sich, als den erblaßten
Leichnam, nichts als eine Zukunft ohne Trost,
ein Alter ohne Stütze, Hoffnungen, die ver-
gangen sind, Feinde, die sich freuen, und
ist betäubt ohne Sprache, ohne Thränen: --
so bald sie sich erst wider erinnert, wie viel
Witz ihr Kind schon gezeigt habe, was für
lebhafte Antworten es gegeben, wie artig es
sich schon in Gesellschaften bezeiget: so löset
sich der Schmerz in Thränen auf: die Em-
pfindung wird vermischt und zur Elegie weich
genug *. Zu dieser Gattung gehört der 137te

Psalm
* Von der Elegie über die Schicksale einer be-
sondern Gesellschaft
gelten beinahe die vori-
gen Einschränkungen, damit sie weder pracht-
volle aber empfindungslose Malereien, noch
Ausrüfe eines patriotischen Enthusiasmus wer-
den. Von dem ersten sieht man bei jedem
öffentlichen Unglück einer Stadt und eines
Lan-

Zeit den Bildern ihre allzugroße Lèbhaftigkeit
geraubt haben: die ſchwarzen Formen muͤſſen
nicht mehr ſo gedraͤngt ſtehen, daß die Erin-
nerung nicht zugleich einige angenehme da-
zwiſchen ſtellen koͤnnte. Eine Mutter, die
ihr einziges Kind verloren hat, ſieht in den
erſten Tagen nichts vor ſich, als den erblaßten
Leichnam, nichts als eine Zukunft ohne Troſt,
ein Alter ohne Stuͤtze, Hoffnungen, die ver-
gangen ſind, Feinde, die ſich freuen, und
iſt betaͤubt ohne Sprache, ohne Thraͤnen: —
ſo bald ſie ſich erſt wider erinnert, wie viel
Witz ihr Kind ſchon gezeigt habe, was fuͤr
lebhafte Antworten es gegeben, wie artig es
ſich ſchon in Geſellſchaften bezeiget: ſo loͤſet
ſich der Schmerz in Thraͤnen auf: die Em-
pfindung wird vermiſcht und zur Elegie weich
genug *. Zu dieſer Gattung gehoͤrt der 137te

Pſalm
* Von der Elegie uͤber die Schickſale einer be-
ſondern Geſellſchaft
gelten beinahe die vori-
gen Einſchraͤnkungen, damit ſie weder pracht-
volle aber empfindungsloſe Malereien, noch
Ausruͤfe eines patriotiſchen Enthuſiaſmus wer-
den. Von dem erſten ſieht man bei jedem
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[232/0240] Zeit den Bildern ihre allzugroße Lèbhaftigkeit geraubt haben: die ſchwarzen Formen muͤſſen nicht mehr ſo gedraͤngt ſtehen, daß die Erin- nerung nicht zugleich einige angenehme da- zwiſchen ſtellen koͤnnte. Eine Mutter, die ihr einziges Kind verloren hat, ſieht in den erſten Tagen nichts vor ſich, als den erblaßten Leichnam, nichts als eine Zukunft ohne Troſt, ein Alter ohne Stuͤtze, Hoffnungen, die ver- gangen ſind, Feinde, die ſich freuen, und iſt betaͤubt ohne Sprache, ohne Thraͤnen: — ſo bald ſie ſich erſt wider erinnert, wie viel Witz ihr Kind ſchon gezeigt habe, was fuͤr lebhafte Antworten es gegeben, wie artig es ſich ſchon in Geſellſchaften bezeiget: ſo loͤſet ſich der Schmerz in Thraͤnen auf: die Em- pfindung wird vermiſcht und zur Elegie weich genug *. Zu dieſer Gattung gehoͤrt der 137te Pſalm * Von der Elegie uͤber die Schickſale einer be- ſondern Geſellſchaft gelten beinahe die vori- gen Einſchraͤnkungen, damit ſie weder pracht- volle aber empfindungsloſe Malereien, noch Ausruͤfe eines patriotiſchen Enthuſiaſmus wer- den. Von dem erſten ſieht man bei jedem oͤffentlichen Ungluͤck einer Stadt und eines Lan-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/240>, abgerufen am 21.11.2024.