"die übrigen, aber nicht eben so leicht, nicht "eben so stark*. Freude, Traurigkeit, "Liebe, Haß, Bewundrung kann der Kan- "zelredner erregen, aber nur in einem gewis- "sen Grade. Ja, die ersten werden vielmehr "vermischte Empfindungen, und die letztere "verliert sich in stille Anbetung. Steigt er "über jenen Grad: so entgehen ihm die See- "len ganz aus den Händen, überlassen sich ih- "ren ruhigen Empfindungen, und der übrige "Theil seiner Rede ist verloren. Ja, je öfter "einerlei Bild vorgebracht wird: desto schwe- "rer fällt es, die ihm zusagende Leidenschaft "zu erwecken. Wie weit kann es also der "geistliche Redner bringen? O wahrhaftig! "Cicero könnte wohl vielleicht der beste Kan- "zelredner unter uns seyn; aber ein Cicero "würde er nicht seyn. Ja, wenn Cicero un- "ter uns wäre erzogen worden: hundert ge- "gen eins, nach seiner herrschenden Neigung
"der
* Wenn der politische Redner kein Akteur an Rührung seyn kann, so muß es der geistliche noch weniger seyn, wenn er nicht alle Zwecke verfehlen will: -- Doch alles dies würde theo- logisch!
„die uͤbrigen, aber nicht eben ſo leicht, nicht „eben ſo ſtark*. Freude, Traurigkeit, „Liebe, Haß, Bewundrung kann der Kan- „zelredner erregen, aber nur in einem gewiſ- „ſen Grade. Ja, die erſten werden vielmehr „vermiſchte Empfindungen, und die letztere „verliert ſich in ſtille Anbetung. Steigt er „uͤber jenen Grad: ſo entgehen ihm die See- „len ganz aus den Haͤnden, uͤberlaſſen ſich ih- „ren ruhigen Empfindungen, und der uͤbrige „Theil ſeiner Rede iſt verloren. Ja, je oͤfter „einerlei Bild vorgebracht wird: deſto ſchwe- „rer faͤllt es, die ihm zuſagende Leidenſchaft „zu erwecken. Wie weit kann es alſo der „geiſtliche Redner bringen? O wahrhaftig! „Cicero koͤnnte wohl vielleicht der beſte Kan- „zelredner unter uns ſeyn; aber ein Cicero „wuͤrde er nicht ſeyn. Ja, wenn Cicero un- „ter uns waͤre erzogen worden: hundert ge- „gen eins, nach ſeiner herrſchenden Neigung
„der
* Wenn der politiſche Redner kein Akteur an Ruͤhrung ſeyn kann, ſo muß es der geiſtliche noch weniger ſeyn, wenn er nicht alle Zwecke verfehlen will: — Doch alles dies wuͤrde theo- logiſch!
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„die uͤbrigen, aber nicht eben ſo leicht, nicht
„eben ſo ſtark *. Freude, Traurigkeit,
„Liebe, Haß, Bewundrung kann der Kan-
„zelredner erregen, aber nur in einem gewiſ-
„ſen Grade. Ja, die erſten werden vielmehr
„vermiſchte Empfindungen, und die letztere
„verliert ſich in ſtille Anbetung. Steigt er
„uͤber jenen Grad: ſo entgehen ihm die See-
„len ganz aus den Haͤnden, uͤberlaſſen ſich ih-
„ren ruhigen Empfindungen, und der uͤbrige
„Theil ſeiner Rede iſt verloren. Ja, je oͤfter
„einerlei Bild vorgebracht wird: deſto ſchwe-
„rer faͤllt es, die ihm zuſagende Leidenſchaft
„zu erwecken. Wie weit kann es alſo der
„geiſtliche Redner bringen? O wahrhaftig!
„Cicero koͤnnte wohl vielleicht der beſte Kan-
„zelredner unter uns ſeyn; aber ein Cicero
„wuͤrde er nicht ſeyn. Ja, wenn Cicero un-
„ter uns waͤre erzogen worden: hundert ge-
„gen eins, nach ſeiner herrſchenden Neigung
„der
* Wenn der politiſche Redner kein Akteur an
Ruͤhrung ſeyn kann, ſo muß es der geiſtliche
noch weniger ſeyn, wenn er nicht alle Zwecke
verfehlen will: — Doch alles dies wuͤrde theo-
logiſch!
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/280>, abgerufen am 26.06.2024.
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