und gleich den zarten ersten Eindruck darauf richten sollen, um von ihnen den Geist sich einhauchen zu lassen, den man braucht, um nach seiner Zeit, und in seinem Lande, wahre Größe zu erreichen: so blieb man bei der äußern Schale stehen, lernte was die Alten gedacht, statt wie sie zu denken, lernte die Sprache, in der sie gesprochen, statt wie sie sprechen zu lernen. Man weiß, wie wenig originalen Geist man in diesen übrigens sehr verdienten Philologen antrift: und man muß über die Schwäche des menschlichen Geistes die Achseln zucken, wenn man sieht, wie das Denken unter der Last der Gelehrsamkeit er- liegt, wie die Erfindung sich bei dem künstli- chen Nachahmen zerstreuet, und die schöne fremde Sprache den Dialekt des Landes zäumet.
Dazu kömmt noch, daß die großen Wie- derhersteller der Wissenschaften oft, so wie die, so plötzlich voll Bewunderung staunen, und auf das erste, das beste ihr Auge heften, nicht immer das Wichtigste durchforschet, und nicht immer den ächten griechischen Geist gekostet. Uebermannet und betäubt vom Vor-
urtheile
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und gleich den zarten erſten Eindruck darauf richten ſollen, um von ihnen den Geiſt ſich einhauchen zu laſſen, den man braucht, um nach ſeiner Zeit, und in ſeinem Lande, wahre Groͤße zu erreichen: ſo blieb man bei der aͤußern Schale ſtehen, lernte was die Alten gedacht, ſtatt wie ſie zu denken, lernte die Sprache, in der ſie geſprochen, ſtatt wie ſie ſprechen zu lernen. Man weiß, wie wenig originalen Geiſt man in dieſen uͤbrigens ſehr verdienten Philologen antrift: und man muß uͤber die Schwaͤche des menſchlichen Geiſtes die Achſeln zucken, wenn man ſieht, wie das Denken unter der Laſt der Gelehrſamkeit er- liegt, wie die Erfindung ſich bei dem kuͤnſtli- chen Nachahmen zerſtreuet, und die ſchoͤne fremde Sprache den Dialekt des Landes zaͤumet.
Dazu koͤmmt noch, daß die großen Wie- derherſteller der Wiſſenſchaften oft, ſo wie die, ſo ploͤtzlich voll Bewunderung ſtaunen, und auf das erſte, das beſte ihr Auge heften, nicht immer das Wichtigſte durchforſchet, und nicht immer den aͤchten griechiſchen Geiſt gekoſtet. Uebermannet und betaͤubt vom Vor-
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und gleich den zarten erſten Eindruck darauf
richten ſollen, um von ihnen den Geiſt ſich
einhauchen zu laſſen, den man braucht, um
nach ſeiner Zeit, und in ſeinem Lande, wahre
Groͤße zu erreichen: ſo blieb man bei der
aͤußern Schale ſtehen, lernte was die Alten
gedacht, ſtatt wie ſie zu denken, lernte die
Sprache, in der ſie geſprochen, ſtatt wie ſie
ſprechen zu lernen. Man weiß, wie wenig
originalen Geiſt man in dieſen uͤbrigens ſehr
verdienten Philologen antrift: und man muß
uͤber die Schwaͤche des menſchlichen Geiſtes
die Achſeln zucken, wenn man ſieht, wie das
Denken unter der Laſt der Gelehrſamkeit er-
liegt, wie die Erfindung ſich bei dem kuͤnſtli-
chen Nachahmen zerſtreuet, und die ſchoͤne
fremde Sprache den Dialekt des Landes
zaͤumet.
Dazu koͤmmt noch, daß die großen Wie-
derherſteller der Wiſſenſchaften oft, ſo wie
die, ſo ploͤtzlich voll Bewunderung ſtaunen,
und auf das erſte, das beſte ihr Auge heften,
nicht immer das Wichtigſte durchforſchet, und
nicht immer den aͤchten griechiſchen Geiſt
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/29>, abgerufen am 21.11.2024.
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