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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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"Redner zum Lobe angerechnet, wenn er einen
"ganzen Tag mit seinem Vortrage hinbrachte.
"Daher konnten lange Eingänge und Vor-
"bereitungen, eine Reihe historischer weit-
"hergeholter Umstände, der prächtige Auf-
"zug mit vielen Eintheilungen, die Steige-
"rung von tausend Beweisen, und was es
"sonst vor Regeln in den trocknen staubichten
"Büchern des Hermagoras und Apollodors
"gibt -- alles konnte damals zur Ehre ge-
"reichen: und hatte der Redner noch dazu
"etwas von Weltweisheit genaschet, und
"brachte aus ihr ein Stück in seine Rede --
"o so wurde er zum Himmel erhoben! Und
"wer wird sich hierüber wundern? Dies al-
"les war neu und unbekannt; selbst die we-
"nigsten Redner sahen die Vorschriften der
"Redekünstler und die Säzze der Weltweisen
"ein. Aber, mein Gott! jetzt, da alles dies
"bekannt ist, da kaum jemand an der Kirchen-
"thür stehet, (der Römer sagt in cortina)
"der nicht die Anfangsgründe der Religion,
"(im lateinischen studiorum) wenn nicht ver-
"dauet, so doch gekostet hätte: ist da nicht
"eine neue Rednerbahn nöthig, um dem Ohr

"nicht
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„Redner zum Lobe angerechnet, wenn er einen
„ganzen Tag mit ſeinem Vortrage hinbrachte.
„Daher konnten lange Eingaͤnge und Vor-
„bereitungen, eine Reihe hiſtoriſcher weit-
„hergeholter Umſtaͤnde, der praͤchtige Auf-
„zug mit vielen Eintheilungen, die Steige-
„rung von tauſend Beweiſen, und was es
„ſonſt vor Regeln in den trocknen ſtaubichten
„Buͤchern des Hermagoras und Apollodors
„gibt — alles konnte damals zur Ehre ge-
„reichen: und hatte der Redner noch dazu
„etwas von Weltweisheit genaſchet, und
„brachte aus ihr ein Stuͤck in ſeine Rede —
„o ſo wurde er zum Himmel erhoben! Und
„wer wird ſich hieruͤber wundern? Dies al-
„les war neu und unbekannt; ſelbſt die we-
„nigſten Redner ſahen die Vorſchriften der
„Redekuͤnſtler und die Saͤzze der Weltweiſen
„ein. Aber, mein Gott! jetzt, da alles dies
„bekannt iſt, da kaum jemand an der Kirchen-
„thuͤr ſtehet, (der Roͤmer ſagt in cortina)
„der nicht die Anfangsgruͤnde der Religion,
„(im lateiniſchen ſtudiorum) wenn nicht ver-
„dauet, ſo doch gekoſtet haͤtte: iſt da nicht
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[291/0299] „Redner zum Lobe angerechnet, wenn er einen „ganzen Tag mit ſeinem Vortrage hinbrachte. „Daher konnten lange Eingaͤnge und Vor- „bereitungen, eine Reihe hiſtoriſcher weit- „hergeholter Umſtaͤnde, der praͤchtige Auf- „zug mit vielen Eintheilungen, die Steige- „rung von tauſend Beweiſen, und was es „ſonſt vor Regeln in den trocknen ſtaubichten „Buͤchern des Hermagoras und Apollodors „gibt — alles konnte damals zur Ehre ge- „reichen: und hatte der Redner noch dazu „etwas von Weltweisheit genaſchet, und „brachte aus ihr ein Stuͤck in ſeine Rede — „o ſo wurde er zum Himmel erhoben! Und „wer wird ſich hieruͤber wundern? Dies al- „les war neu und unbekannt; ſelbſt die we- „nigſten Redner ſahen die Vorſchriften der „Redekuͤnſtler und die Saͤzze der Weltweiſen „ein. Aber, mein Gott! jetzt, da alles dies „bekannt iſt, da kaum jemand an der Kirchen- „thuͤr ſtehet, (der Roͤmer ſagt in cortina) „der nicht die Anfangsgruͤnde der Religion, „(im lateiniſchen ſtudiorum) wenn nicht ver- „dauet, ſo doch gekoſtet haͤtte: iſt da nicht „eine neue Rednerbahn noͤthig, um dem Ohr „nicht T 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/299>, abgerufen am 21.11.2024.