Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

des Genies zur Welt gebohren ist. Eine
Empfindung in ihren Nuancen auszudrücken,
ist also äußerst schwer (man erinnere sich an
mein sechstes Fragment) aber unnöthig?
Wie kann ich eine Empfindung ohne diese
Nuancen erhaschen, ausdrücken, wieder er-
kennen?
Der Kunstrichter wird eigensin-
nig: ich appellire an das Publikum. --
Hätte K. uns seine Empfindungen in allen
ihren Nuancen zeichnen können: so hätte
derselbe G. nicht so delikat sagen dörfen:
K. Lieder sind so voll Empfindung, daß man
nichts dabei empfindet! -- Da das aber
unmöglich ist, eine Empfindung mit allen
ihren Nuancen in einer Sprache der Ver-
nunft zu zeichnen; so bin ich gerade der ge-
genseitigen Meinung: "eine Empfindung muß
mit ihren Nuancen sich bestmöglichst aus-
drücken;" sonst erkennet man sie nie wie-
der: -- "man suche also die reichsten und
triftigsten darunter," damit sie auch wieder
Empfindung würke. Das erste Merkmaal
hat K. überall gezeigt, und er ist in meiner
Seele unser größte Dichter an Empfindung;

das

des Genies zur Welt gebohren iſt. Eine
Empfindung in ihren Nuancen auszudruͤcken,
iſt alſo aͤußerſt ſchwer (man erinnere ſich an
mein ſechſtes Fragment) aber unnoͤthig?
Wie kann ich eine Empfindung ohne dieſe
Nuancen erhaſchen, ausdruͤcken, wieder er-
kennen?
Der Kunſtrichter wird eigenſin-
nig: ich appellire an das Publikum. —
Haͤtte K. uns ſeine Empfindungen in allen
ihren Nuancen zeichnen koͤnnen: ſo haͤtte
derſelbe G. nicht ſo delikat ſagen doͤrfen:
K. Lieder ſind ſo voll Empfindung, daß man
nichts dabei empfindet! — Da das aber
unmoͤglich iſt, eine Empfindung mit allen
ihren Nuancen in einer Sprache der Ver-
nunft zu zeichnen; ſo bin ich gerade der ge-
genſeitigen Meinung: „eine Empfindung muß
mit ihren Nuancen ſich beſtmoͤglichſt aus-
druͤcken;„ ſonſt erkennet man ſie nie wie-
der: — „man ſuche alſo die reichſten und
triftigſten darunter,„ damit ſie auch wieder
Empfindung wuͤrke. Das erſte Merkmaal
hat K. uͤberall gezeigt, und er iſt in meiner
Seele unſer groͤßte Dichter an Empfindung;

das
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0320" n="312"/>
des Genies zur Welt gebohren i&#x017F;t. Eine<lb/>
Empfindung in ihren Nuancen auszudru&#x0364;cken,<lb/>
i&#x017F;t al&#x017F;o a&#x0364;ußer&#x017F;t &#x017F;chwer (man erinnere &#x017F;ich an<lb/>
mein &#x017F;ech&#x017F;tes Fragment) aber <hi rendition="#fr">unno&#x0364;thig?</hi><lb/>
Wie kann ich eine Empfindung ohne die&#x017F;e<lb/>
Nuancen <hi rendition="#fr">erha&#x017F;chen, ausdru&#x0364;cken, wieder er-<lb/>
kennen?</hi> Der Kun&#x017F;trichter wird eigen&#x017F;in-<lb/>
nig: ich appellire an das Publikum. &#x2014;<lb/>
Ha&#x0364;tte K. uns &#x017F;eine Empfindungen in allen<lb/><hi rendition="#fr">ihren Nuancen</hi> zeichnen <hi rendition="#fr">ko&#x0364;nnen:</hi> &#x017F;o ha&#x0364;tte<lb/>
der&#x017F;elbe G. nicht &#x017F;o delikat &#x017F;agen <hi rendition="#fr">do&#x0364;rfen:</hi><lb/>
K. Lieder &#x017F;ind &#x017F;o voll Empfindung, daß man<lb/>
nichts dabei empfindet! &#x2014; Da das aber<lb/><hi rendition="#fr">unmo&#x0364;glich</hi> i&#x017F;t, eine Empfindung mit <hi rendition="#fr">allen</hi><lb/>
ihren Nuancen in einer Sprache der Ver-<lb/>
nunft zu zeichnen; &#x017F;o bin ich gerade der ge-<lb/>
gen&#x017F;eitigen Meinung: &#x201E;eine Empfindung muß<lb/>
mit ihren Nuancen &#x017F;ich <hi rendition="#fr">be&#x017F;tmo&#x0364;glich&#x017F;t</hi> aus-<lb/>
dru&#x0364;cken;&#x201E; &#x017F;on&#x017F;t erkennet man &#x017F;ie nie wie-<lb/>
der: &#x2014; &#x201E;man &#x017F;uche al&#x017F;o die reich&#x017F;ten und<lb/>
triftig&#x017F;ten darunter,&#x201E; damit &#x017F;ie auch wieder<lb/>
Empfindung wu&#x0364;rke. Das er&#x017F;te Merkmaal<lb/>
hat K. u&#x0364;berall gezeigt, und er i&#x017F;t in meiner<lb/>
Seele un&#x017F;er gro&#x0364;ßte Dichter an Empfindung;<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">das</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[312/0320] des Genies zur Welt gebohren iſt. Eine Empfindung in ihren Nuancen auszudruͤcken, iſt alſo aͤußerſt ſchwer (man erinnere ſich an mein ſechſtes Fragment) aber unnoͤthig? Wie kann ich eine Empfindung ohne dieſe Nuancen erhaſchen, ausdruͤcken, wieder er- kennen? Der Kunſtrichter wird eigenſin- nig: ich appellire an das Publikum. — Haͤtte K. uns ſeine Empfindungen in allen ihren Nuancen zeichnen koͤnnen: ſo haͤtte derſelbe G. nicht ſo delikat ſagen doͤrfen: K. Lieder ſind ſo voll Empfindung, daß man nichts dabei empfindet! — Da das aber unmoͤglich iſt, eine Empfindung mit allen ihren Nuancen in einer Sprache der Ver- nunft zu zeichnen; ſo bin ich gerade der ge- genſeitigen Meinung: „eine Empfindung muß mit ihren Nuancen ſich beſtmoͤglichſt aus- druͤcken;„ ſonſt erkennet man ſie nie wie- der: — „man ſuche alſo die reichſten und triftigſten darunter,„ damit ſie auch wieder Empfindung wuͤrke. Das erſte Merkmaal hat K. uͤberall gezeigt, und er iſt in meiner Seele unſer groͤßte Dichter an Empfindung; das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/320
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/320>, abgerufen am 21.11.2024.