Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

Bild:
<< vorherige Seite

"art eines Christen seyn, der zu gleicher Zeit
"ein Dichter ist, und zwar ein Dichter, der
"seine Religion ungemein zu ehren glaubt,
"wenn er ihre Geheimnisse zu Gegenständen
"des schönen Denkens macht. Gelingt es
"ihm nun hiemit: so wird er sich in seine
"verschönerte Andacht verlieben, ein süßer
"Enthusiasmus wird sich seiner bemeistern,
"und der erhitzte Kopf wird mit allem Ernst
"anfangen, zu glauben, daß dieser Enthusias-
"mus das wahre Gefühl der Religion sey.
"Jst er es aber? Und ist es wahrscheinlich,
"daß ein Mensch, der die Allgegenwart Got-
"tes denkt, wirklich das dabei denkt, was er
"denken sollte, wenn er seine Andacht auf
"die Flügel des Klopstockischen Hexameters
"setzt und anhebt:

Als ich das kleine Leben noch lebte u. s. w.
"Alles schön! aber sind das Empfindungen?
"Sind Ausschweifungen der Einbildungskraft
"Empfindungen? --" Diese Einwürfe,
die die Litterat Br. nicht ganz unrecht Wie-
lands Empfindungen
* machten, könnte

mir
* Th. 1. p. 38.

„art eines Chriſten ſeyn, der zu gleicher Zeit
„ein Dichter iſt, und zwar ein Dichter, der
„ſeine Religion ungemein zu ehren glaubt,
„wenn er ihre Geheimniſſe zu Gegenſtaͤnden
„des ſchoͤnen Denkens macht. Gelingt es
„ihm nun hiemit: ſo wird er ſich in ſeine
„verſchoͤnerte Andacht verlieben, ein ſuͤßer
„Enthuſiaſmus wird ſich ſeiner bemeiſtern,
„und der erhitzte Kopf wird mit allem Ernſt
„anfangen, zu glauben, daß dieſer Enthuſiaſ-
„mus das wahre Gefuͤhl der Religion ſey.
„Jſt er es aber? Und iſt es wahrſcheinlich,
„daß ein Menſch, der die Allgegenwart Got-
„tes denkt, wirklich das dabei denkt, was er
„denken ſollte, wenn er ſeine Andacht auf
„die Fluͤgel des Klopſtockiſchen Hexameters
„ſetzt und anhebt:

Als ich das kleine Leben noch lebte u. ſ. w.
„Alles ſchoͤn! aber ſind das Empfindungen?
„Sind Ausſchweifungen der Einbildungskraft
„Empfindungen? —„ Dieſe Einwuͤrfe,
die die Litterat Br. nicht ganz unrecht Wie-
lands Empfindungen
* machten, koͤnnte

mir
* Th. 1. p. 38.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0328" n="320"/>
&#x201E;art eines Chri&#x017F;ten &#x017F;eyn, der zu gleicher Zeit<lb/>
&#x201E;ein Dichter i&#x017F;t, und zwar ein Dichter, der<lb/>
&#x201E;&#x017F;eine Religion ungemein zu ehren glaubt,<lb/>
&#x201E;wenn er ihre Geheimni&#x017F;&#x017F;e zu Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden<lb/>
&#x201E;des <hi rendition="#fr">&#x017F;cho&#x0364;nen Denkens</hi> macht. Gelingt es<lb/>
&#x201E;ihm nun hiemit: &#x017F;o wird er &#x017F;ich in &#x017F;eine<lb/>
&#x201E;ver&#x017F;cho&#x0364;nerte Andacht verlieben, ein &#x017F;u&#x0364;ßer<lb/>
&#x201E;Enthu&#x017F;ia&#x017F;mus wird &#x017F;ich &#x017F;einer bemei&#x017F;tern,<lb/>
&#x201E;und der erhitzte Kopf wird mit allem Ern&#x017F;t<lb/>
&#x201E;anfangen, zu glauben, daß die&#x017F;er Enthu&#x017F;ia&#x017F;-<lb/>
&#x201E;mus das wahre Gefu&#x0364;hl der Religion &#x017F;ey.<lb/>
&#x201E;J&#x017F;t er es aber? Und i&#x017F;t es wahr&#x017F;cheinlich,<lb/>
&#x201E;daß ein Men&#x017F;ch, der die Allgegenwart Got-<lb/>
&#x201E;tes denkt, wirklich das dabei denkt, was er<lb/>
&#x201E;denken &#x017F;ollte, wenn er &#x017F;eine Andacht auf<lb/>
&#x201E;die Flu&#x0364;gel des Klop&#x017F;tocki&#x017F;chen Hexameters<lb/>
&#x201E;&#x017F;etzt und anhebt:</p><lb/>
                <p>Als ich das kleine Leben noch lebte u. &#x017F;. w.<lb/>
&#x201E;Alles &#x017F;cho&#x0364;n! aber &#x017F;ind das Empfindungen?<lb/>
&#x201E;Sind Aus&#x017F;chweifungen der Einbildungskraft<lb/>
&#x201E;Empfindungen? &#x2014;&#x201E; Die&#x017F;e Einwu&#x0364;rfe,<lb/>
die die Litterat Br. nicht ganz unrecht <hi rendition="#fr">Wie-<lb/>
lands Empfindungen</hi> <note place="foot" n="*">Th. 1. p. 38.</note> machten, ko&#x0364;nnte<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mir</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[320/0328] „art eines Chriſten ſeyn, der zu gleicher Zeit „ein Dichter iſt, und zwar ein Dichter, der „ſeine Religion ungemein zu ehren glaubt, „wenn er ihre Geheimniſſe zu Gegenſtaͤnden „des ſchoͤnen Denkens macht. Gelingt es „ihm nun hiemit: ſo wird er ſich in ſeine „verſchoͤnerte Andacht verlieben, ein ſuͤßer „Enthuſiaſmus wird ſich ſeiner bemeiſtern, „und der erhitzte Kopf wird mit allem Ernſt „anfangen, zu glauben, daß dieſer Enthuſiaſ- „mus das wahre Gefuͤhl der Religion ſey. „Jſt er es aber? Und iſt es wahrſcheinlich, „daß ein Menſch, der die Allgegenwart Got- „tes denkt, wirklich das dabei denkt, was er „denken ſollte, wenn er ſeine Andacht auf „die Fluͤgel des Klopſtockiſchen Hexameters „ſetzt und anhebt: Als ich das kleine Leben noch lebte u. ſ. w. „Alles ſchoͤn! aber ſind das Empfindungen? „Sind Ausſchweifungen der Einbildungskraft „Empfindungen? —„ Dieſe Einwuͤrfe, die die Litterat Br. nicht ganz unrecht Wie- lands Empfindungen * machten, koͤnnte mir * Th. 1. p. 38.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/328
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/328>, abgerufen am 19.05.2024.