hinter uns haben, und in andern, wo sie vor uns sind, nicht nachahmen können. Die Ge- stalt unsrer Litteratur hat nicht blos eine an- dre Farbe, sondern eine andre Bildung, als die altrömische; und es bleibt also nicht schlech- terdings ein Ruhm; dieser Dichter singt wie Horaz, jener Redner spricht wie Cicero, die- ser philosophische Dichter ist ein andrer Lu- krez; dieser Geschichtschreiber ist ein zweiter Livius. Jch sage: nicht schlechterdings! aber das ist ein großer, ein seltener, ein be- neidenswerther Ruhm, wenn es heißen kann: so hätte Horaz, Cicero, Lukrez, Livius ge- schrieben, wenn sie über diesen Vorfall, auf dieser Stufe der Cultur, zu der Zeit, zu diesen Zwecken für die Denkart dieses Volks, in dieser Sprache geschrieben hät- ten.
Das letzte heißt: einen Alten nachbilden, und ihm nacheifern; das erste ihn kopiren, und ihm nachahmen. Das erste ist leider! sehr selten, weil man dabei das beiderseitige Genie zweier Sprachen, Denkarten und Zei- ten kennen, vergleichen, und so brauchen muß, daß keinem Zwang geschieht. Diese Kunst
ist
hinter uns haben, und in andern, wo ſie vor uns ſind, nicht nachahmen koͤnnen. Die Ge- ſtalt unſrer Litteratur hat nicht blos eine an- dre Farbe, ſondern eine andre Bildung, als die altroͤmiſche; und es bleibt alſo nicht ſchlech- terdings ein Ruhm; dieſer Dichter ſingt wie Horaz, jener Redner ſpricht wie Cicero, die- ſer philoſophiſche Dichter iſt ein andrer Lu- krez; dieſer Geſchichtſchreiber iſt ein zweiter Livius. Jch ſage: nicht ſchlechterdings! aber das iſt ein großer, ein ſeltener, ein be- neidenswerther Ruhm, wenn es heißen kann: ſo haͤtte Horaz, Cicero, Lukrez, Livius ge- ſchrieben, wenn ſie uͤber dieſen Vorfall, auf dieſer Stufe der Cultur, zu der Zeit, zu dieſen Zwecken fuͤr die Denkart dieſes Volks, in dieſer Sprache geſchrieben haͤt- ten.
Das letzte heißt: einen Alten nachbilden, und ihm nacheifern; das erſte ihn kopiren, und ihm nachahmen. Das erſte iſt leider! ſehr ſelten, weil man dabei das beiderſeitige Genie zweier Sprachen, Denkarten und Zei- ten kennen, vergleichen, und ſo brauchen muß, daß keinem Zwang geſchieht. Dieſe Kunſt
iſt
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hinter uns haben, und in andern, wo ſie vor
uns ſind, nicht nachahmen koͤnnen. Die Ge-
ſtalt unſrer Litteratur hat nicht blos eine an-
dre Farbe, ſondern eine andre Bildung, als
die altroͤmiſche; und es bleibt alſo nicht ſchlech-
terdings ein Ruhm; dieſer Dichter ſingt wie
Horaz, jener Redner ſpricht wie Cicero, die-
ſer philoſophiſche Dichter iſt ein andrer Lu-
krez; dieſer Geſchichtſchreiber iſt ein zweiter
Livius. Jch ſage: nicht ſchlechterdings!
aber das iſt ein großer, ein ſeltener, ein be-
neidenswerther Ruhm, wenn es heißen kann:
ſo haͤtte Horaz, Cicero, Lukrez, Livius ge-
ſchrieben, wenn ſie uͤber dieſen Vorfall, auf
dieſer Stufe der Cultur, zu der Zeit, zu
dieſen Zwecken fuͤr die Denkart dieſes
Volks, in dieſer Sprache geſchrieben haͤt-
ten.
Das letzte heißt: einen Alten nachbilden,
und ihm nacheifern; das erſte ihn kopiren,
und ihm nachahmen. Das erſte iſt leider!
ſehr ſelten, weil man dabei das beiderſeitige
Genie zweier Sprachen, Denkarten und Zei-
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daß keinem Zwang geſchieht. Dieſe Kunſt
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/52>, abgerufen am 24.11.2024.
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