dürre unfruchtbare Barbarei in die Methode, die ein Lexicon von Namen zu lernen aufgibt, und die Seele vom Denken zurückhält. Hier haben einige neuere Weltweise mit Recht ge- sagt, wie Sokrates, da er durch einen Jahr- markt voll Volk ging, zu seinem Begleiter: Freund! wie viel können wir entbehren?
Dazu kömmt zweitens dies, daß eine jede Schule gewisse Lieblingswörter sich gewählet, die sie als Spazziergänge gebraucht, um die Materie nach Belieben zu betrachten. "Man "hat einige Grundfäden, die zu allen Schrif- "ten dienen müssen, und in die man nachher "nur die veränderten Figuren hineinwürket." Hieraus entsteht eine gewisse Bequemlichkeit im Denken, man könnte freilich von allen Seiten herumgehen, um den Gegenstand aus allerlei Gesichtspunkten zu betrachten; allein man sezzt sich auf dies oder jedes Wort, als eine alte Ruhestäte, und sieht -- was alle Menschen vor uns sahen und nach uns sehen werden. Oder man schichtet seine Materie nach gewissen alten Eintheilungen, die sich auf Schulen herunter erben, und ein Joch im Denken auflegen, weil der Zuhörer nicht vor
sich
duͤrre unfruchtbare Barbarei in die Methode, die ein Lexicon von Namen zu lernen aufgibt, und die Seele vom Denken zuruͤckhaͤlt. Hier haben einige neuere Weltweiſe mit Recht ge- ſagt, wie Sokrates, da er durch einen Jahr- markt voll Volk ging, zu ſeinem Begleiter: Freund! wie viel koͤnnen wir entbehren?
Dazu koͤmmt zweitens dies, daß eine jede Schule gewiſſe Lieblingswoͤrter ſich gewaͤhlet, die ſie als Spazziergaͤnge gebraucht, um die Materie nach Belieben zu betrachten. „Man „hat einige Grundfaͤden, die zu allen Schrif- „ten dienen muͤſſen, und in die man nachher „nur die veraͤnderten Figuren hineinwuͤrket.„ Hieraus entſteht eine gewiſſe Bequemlichkeit im Denken, man koͤnnte freilich von allen Seiten herumgehen, um den Gegenſtand aus allerlei Geſichtspunkten zu betrachten; allein man ſezzt ſich auf dies oder jedes Wort, als eine alte Ruheſtaͤte, und ſieht — was alle Menſchen vor uns ſahen und nach uns ſehen werden. Oder man ſchichtet ſeine Materie nach gewiſſen alten Eintheilungen, die ſich auf Schulen herunter erben, und ein Joch im Denken auflegen, weil der Zuhoͤrer nicht vor
ſich
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[48/0056]
duͤrre unfruchtbare Barbarei in die Methode,
die ein Lexicon von Namen zu lernen aufgibt,
und die Seele vom Denken zuruͤckhaͤlt. Hier
haben einige neuere Weltweiſe mit Recht ge-
ſagt, wie Sokrates, da er durch einen Jahr-
markt voll Volk ging, zu ſeinem Begleiter:
Freund! wie viel koͤnnen wir entbehren?
Dazu koͤmmt zweitens dies, daß eine jede
Schule gewiſſe Lieblingswoͤrter ſich gewaͤhlet,
die ſie als Spazziergaͤnge gebraucht, um die
Materie nach Belieben zu betrachten. „Man
„hat einige Grundfaͤden, die zu allen Schrif-
„ten dienen muͤſſen, und in die man nachher
„nur die veraͤnderten Figuren hineinwuͤrket.„
Hieraus entſteht eine gewiſſe Bequemlichkeit
im Denken, man koͤnnte freilich von allen
Seiten herumgehen, um den Gegenſtand aus
allerlei Geſichtspunkten zu betrachten; allein
man ſezzt ſich auf dies oder jedes Wort, als
eine alte Ruheſtaͤte, und ſieht — was alle
Menſchen vor uns ſahen und nach uns ſehen
werden. Oder man ſchichtet ſeine Materie
nach gewiſſen alten Eintheilungen, die ſich auf
Schulen herunter erben, und ein Joch im
Denken auflegen, weil der Zuhoͤrer nicht vor
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/56>, abgerufen am 24.11.2024.
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