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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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5.

Alles kömmt auf den Unterschied an; ler-
nen
wir die Sprache, oder erfinden wir sie
uns selbst. Schriebe ich von dem letztern,
wie ohngefähr bei den ersten Erfindern habe
der Ausdruck am Gedanken kleben müssen:
so würde ich einen ganz andern Weg nehmen
müssen, als jetzt, da wir die Sprache ler-
nen.
Dort würde ich erst die ganze Zeichen-
sprache des Menschen erschöpfen müssen, die
Beredsamkeit des Auges und des sprechenden
Antlitzes: die ganze unzälige Menge unarti-
kulirter Töne bey einem thierischen Menschen,
seine Mimische Sprache, -- kurz, eine Menge
von Sprachmitteln, die an sich die kräftigsten,
die ersten, und auf eine Zeit die einzigen müs-
sen gewesen seyn -- ehe der Mensch zur Spra-
che seine Zuflucht nahm.

Uns ist dieser ganze Wald ein böhmischer
Wald: wir verstehen diese ganze Zeichenspra-
che nicht mehr, denn man läßt uns nicht eine
Sprache erfinden, sondern lehrt sie uns: man
läßt nicht das Thier sich so lange entwickeln,
bis es endlich dem Menschen sich von selbst

nähert:
5.

Alles koͤmmt auf den Unterſchied an; ler-
nen
wir die Sprache, oder erfinden wir ſie
uns ſelbſt. Schriebe ich von dem letztern,
wie ohngefaͤhr bei den erſten Erfindern habe
der Ausdruck am Gedanken kleben muͤſſen:
ſo wuͤrde ich einen ganz andern Weg nehmen
muͤſſen, als jetzt, da wir die Sprache ler-
nen.
Dort wuͤrde ich erſt die ganze Zeichen-
ſprache des Menſchen erſchoͤpfen muͤſſen, die
Beredſamkeit des Auges und des ſprechenden
Antlitzes: die ganze unzaͤlige Menge unarti-
kulirter Toͤne bey einem thieriſchen Menſchen,
ſeine Mimiſche Sprache, — kurz, eine Menge
von Sprachmitteln, die an ſich die kraͤftigſten,
die erſten, und auf eine Zeit die einzigen muͤſ-
ſen geweſen ſeyn — ehe der Menſch zur Spra-
che ſeine Zuflucht nahm.

Uns iſt dieſer ganze Wald ein boͤhmiſcher
Wald: wir verſtehen dieſe ganze Zeichenſpra-
che nicht mehr, denn man laͤßt uns nicht eine
Sprache erfinden, ſondern lehrt ſie uns: man
laͤßt nicht das Thier ſich ſo lange entwickeln,
bis es endlich dem Menſchen ſich von ſelbſt

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[50/0058] 5. Alles koͤmmt auf den Unterſchied an; ler- nen wir die Sprache, oder erfinden wir ſie uns ſelbſt. Schriebe ich von dem letztern, wie ohngefaͤhr bei den erſten Erfindern habe der Ausdruck am Gedanken kleben muͤſſen: ſo wuͤrde ich einen ganz andern Weg nehmen muͤſſen, als jetzt, da wir die Sprache ler- nen. Dort wuͤrde ich erſt die ganze Zeichen- ſprache des Menſchen erſchoͤpfen muͤſſen, die Beredſamkeit des Auges und des ſprechenden Antlitzes: die ganze unzaͤlige Menge unarti- kulirter Toͤne bey einem thieriſchen Menſchen, ſeine Mimiſche Sprache, — kurz, eine Menge von Sprachmitteln, die an ſich die kraͤftigſten, die erſten, und auf eine Zeit die einzigen muͤſ- ſen geweſen ſeyn — ehe der Menſch zur Spra- che ſeine Zuflucht nahm. Uns iſt dieſer ganze Wald ein boͤhmiſcher Wald: wir verſtehen dieſe ganze Zeichenſpra- che nicht mehr, denn man laͤßt uns nicht eine Sprache erfinden, ſondern lehrt ſie uns: man laͤßt nicht das Thier ſich ſo lange entwickeln, bis es endlich dem Menſchen ſich von ſelbſt naͤhert:

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/58>, abgerufen am 25.11.2024.