Alles kömmt auf den Unterschied an; ler- nen wir die Sprache, oder erfinden wir sie uns selbst. Schriebe ich von dem letztern, wie ohngefähr bei den ersten Erfindern habe der Ausdruck am Gedanken kleben müssen: so würde ich einen ganz andern Weg nehmen müssen, als jetzt, da wir die Sprache ler- nen. Dort würde ich erst die ganze Zeichen- sprache des Menschen erschöpfen müssen, die Beredsamkeit des Auges und des sprechenden Antlitzes: die ganze unzälige Menge unarti- kulirter Töne bey einem thierischen Menschen, seine Mimische Sprache, -- kurz, eine Menge von Sprachmitteln, die an sich die kräftigsten, die ersten, und auf eine Zeit die einzigen müs- sen gewesen seyn -- ehe der Mensch zur Spra- che seine Zuflucht nahm.
Uns ist dieser ganze Wald ein böhmischer Wald: wir verstehen diese ganze Zeichenspra- che nicht mehr, denn man läßt uns nicht eine Sprache erfinden, sondern lehrt sie uns: man läßt nicht das Thier sich so lange entwickeln, bis es endlich dem Menschen sich von selbst
nähert:
5.
Alles koͤmmt auf den Unterſchied an; ler- nen wir die Sprache, oder erfinden wir ſie uns ſelbſt. Schriebe ich von dem letztern, wie ohngefaͤhr bei den erſten Erfindern habe der Ausdruck am Gedanken kleben muͤſſen: ſo wuͤrde ich einen ganz andern Weg nehmen muͤſſen, als jetzt, da wir die Sprache ler- nen. Dort wuͤrde ich erſt die ganze Zeichen- ſprache des Menſchen erſchoͤpfen muͤſſen, die Beredſamkeit des Auges und des ſprechenden Antlitzes: die ganze unzaͤlige Menge unarti- kulirter Toͤne bey einem thieriſchen Menſchen, ſeine Mimiſche Sprache, — kurz, eine Menge von Sprachmitteln, die an ſich die kraͤftigſten, die erſten, und auf eine Zeit die einzigen muͤſ- ſen geweſen ſeyn — ehe der Menſch zur Spra- che ſeine Zuflucht nahm.
Uns iſt dieſer ganze Wald ein boͤhmiſcher Wald: wir verſtehen dieſe ganze Zeichenſpra- che nicht mehr, denn man laͤßt uns nicht eine Sprache erfinden, ſondern lehrt ſie uns: man laͤßt nicht das Thier ſich ſo lange entwickeln, bis es endlich dem Menſchen ſich von ſelbſt
naͤhert:
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5.
Alles koͤmmt auf den Unterſchied an; ler-
nen wir die Sprache, oder erfinden wir ſie
uns ſelbſt. Schriebe ich von dem letztern,
wie ohngefaͤhr bei den erſten Erfindern habe
der Ausdruck am Gedanken kleben muͤſſen:
ſo wuͤrde ich einen ganz andern Weg nehmen
muͤſſen, als jetzt, da wir die Sprache ler-
nen. Dort wuͤrde ich erſt die ganze Zeichen-
ſprache des Menſchen erſchoͤpfen muͤſſen, die
Beredſamkeit des Auges und des ſprechenden
Antlitzes: die ganze unzaͤlige Menge unarti-
kulirter Toͤne bey einem thieriſchen Menſchen,
ſeine Mimiſche Sprache, — kurz, eine Menge
von Sprachmitteln, die an ſich die kraͤftigſten,
die erſten, und auf eine Zeit die einzigen muͤſ-
ſen geweſen ſeyn — ehe der Menſch zur Spra-
che ſeine Zuflucht nahm.
Uns iſt dieſer ganze Wald ein boͤhmiſcher
Wald: wir verſtehen dieſe ganze Zeichenſpra-
che nicht mehr, denn man laͤßt uns nicht eine
Sprache erfinden, ſondern lehrt ſie uns: man
laͤßt nicht das Thier ſich ſo lange entwickeln,
bis es endlich dem Menſchen ſich von ſelbſt
naͤhert:
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/58>, abgerufen am 25.11.2024.
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