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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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Ausdrucke paaret: so steht ein Bild vor mir,
wo der einförmige Umriß des Körpers für
mich blos ein Zeuge jenes Gedankens ist, der
sich denselben formte: die äußere Gestalt der
wohlgebildeten Form erinnert mich des bil-
denden Gedankens, der sich hier in seinem
Werke spiegelt: die freye Stellung redet von
dem Werkmeister, der dies Werkzeug so leicht
zu brauchen wußte: die Macht, die nichts
leeres übrig läßt, ist eine Hülle des großen
Bewohners: alles wird ein Gegenschein von
seinem Urbilde, und eine Morgenröthe, die
sich in Stralen der Sonne gekleidet. Wenn ich
auf die Art Ausdruck und Gedanke zusammen
betrachte: soll ich jenen allein bemerken? --
einen Körper ohne Seele; diesen allein? --
eine Seele ohne Körper. -- Und wohnt sie
in einem wüsten ungestalten Hause, wo sie
wie aus einem dunkeln, unregelmäßigen Ker-
ker herausblickt, wo Sehnen wie Stricke,
und Adern wie unreine Kanäle sich erheben,
und sichtbar fortlaufen: wo ein dürftiges
mißgebohrnes schmachtendes Werk uns Zit-
tern, oder Ekel, oder Abscheu erwecket: so
muß uns der Traum des Plato beifallen: in

dieses

Ausdrucke paaret: ſo ſteht ein Bild vor mir,
wo der einfoͤrmige Umriß des Koͤrpers fuͤr
mich blos ein Zeuge jenes Gedankens iſt, der
ſich denſelben formte: die aͤußere Geſtalt der
wohlgebildeten Form erinnert mich des bil-
denden Gedankens, der ſich hier in ſeinem
Werke ſpiegelt: die freye Stellung redet von
dem Werkmeiſter, der dies Werkzeug ſo leicht
zu brauchen wußte: die Macht, die nichts
leeres uͤbrig laͤßt, iſt eine Huͤlle des großen
Bewohners: alles wird ein Gegenſchein von
ſeinem Urbilde, und eine Morgenroͤthe, die
ſich in Stralen der Sonne gekleidet. Wenn ich
auf die Art Ausdruck und Gedanke zuſammen
betrachte: ſoll ich jenen allein bemerken? —
einen Koͤrper ohne Seele; dieſen allein? —
eine Seele ohne Koͤrper. — Und wohnt ſie
in einem wuͤſten ungeſtalten Hauſe, wo ſie
wie aus einem dunkeln, unregelmaͤßigen Ker-
ker herausblickt, wo Sehnen wie Stricke,
und Adern wie unreine Kanaͤle ſich erheben,
und ſichtbar fortlaufen: wo ein duͤrftiges
mißgebohrnes ſchmachtendes Werk uns Zit-
tern, oder Ekel, oder Abſcheu erwecket: ſo
muß uns der Traum des Plato beifallen: in

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[74/0082] Ausdrucke paaret: ſo ſteht ein Bild vor mir, wo der einfoͤrmige Umriß des Koͤrpers fuͤr mich blos ein Zeuge jenes Gedankens iſt, der ſich denſelben formte: die aͤußere Geſtalt der wohlgebildeten Form erinnert mich des bil- denden Gedankens, der ſich hier in ſeinem Werke ſpiegelt: die freye Stellung redet von dem Werkmeiſter, der dies Werkzeug ſo leicht zu brauchen wußte: die Macht, die nichts leeres uͤbrig laͤßt, iſt eine Huͤlle des großen Bewohners: alles wird ein Gegenſchein von ſeinem Urbilde, und eine Morgenroͤthe, die ſich in Stralen der Sonne gekleidet. Wenn ich auf die Art Ausdruck und Gedanke zuſammen betrachte: ſoll ich jenen allein bemerken? — einen Koͤrper ohne Seele; dieſen allein? — eine Seele ohne Koͤrper. — Und wohnt ſie in einem wuͤſten ungeſtalten Hauſe, wo ſie wie aus einem dunkeln, unregelmaͤßigen Ker- ker herausblickt, wo Sehnen wie Stricke, und Adern wie unreine Kanaͤle ſich erheben, und ſichtbar fortlaufen: wo ein duͤrftiges mißgebohrnes ſchmachtendes Werk uns Zit- tern, oder Ekel, oder Abſcheu erwecket: ſo muß uns der Traum des Plato beifallen: in dieſes

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/82>, abgerufen am 27.11.2024.