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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767.

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dieses Gefängniß ward der Gedanke gesandt,
zur Strafe für die in der in der Oberwelt begangne
Verbrechen. -- So wenig ist in der wahren
Dichtkunst, Gedanke und Ausdruck von ein-
ander zu trennen: und es ist beinahe immer
ein Kennzeichen einer mittelmäßigen Poesie,
wenn sie gar zu leicht zu übersezzen ist.



7.

Jch thue noch einen Schritt: wenn in der
Poesie der Gedanke und Ausdruck so vest an
einander kleben: so muß ich ohne Zweifel in
der Sprache dichten, wo ich das meiste An-
sehen, und Gewalt über die Worte, die
größeste Känntniß derselben, oder wenigstens
eine Gewißheit habe, daß meine Dreustigkeit
noch nicht Gesezzlosigkeit werde: und ohne
Zweifel ist dies die Muttersprache. Sie
druckte sich uns zuerst, und in den zartesten
Jahren ein, da wir mittelst Worte in unsre
Seele die Welt von Begriffen und Bildern
sammleten, die dem Dichter eine Schazzkam-
mer wird. Jn ihr muß er also mit der

größten

dieſes Gefaͤngniß ward der Gedanke geſandt,
zur Strafe fuͤr die in der in der Oberwelt begangne
Verbrechen. — So wenig iſt in der wahren
Dichtkunſt, Gedanke und Ausdruck von ein-
ander zu trennen: und es iſt beinahe immer
ein Kennzeichen einer mittelmaͤßigen Poeſie,
wenn ſie gar zu leicht zu uͤberſezzen iſt.



7.

Jch thue noch einen Schritt: wenn in der
Poeſie der Gedanke und Ausdruck ſo veſt an
einander kleben: ſo muß ich ohne Zweifel in
der Sprache dichten, wo ich das meiſte An-
ſehen, und Gewalt uͤber die Worte, die
groͤßeſte Kaͤnntniß derſelben, oder wenigſtens
eine Gewißheit habe, daß meine Dreuſtigkeit
noch nicht Geſezzloſigkeit werde: und ohne
Zweifel iſt dies die Mutterſprache. Sie
druckte ſich uns zuerſt, und in den zarteſten
Jahren ein, da wir mittelſt Worte in unſre
Seele die Welt von Begriffen und Bildern
ſammleten, die dem Dichter eine Schazzkam-
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[75/0083] dieſes Gefaͤngniß ward der Gedanke geſandt, zur Strafe fuͤr die in der in der Oberwelt begangne Verbrechen. — So wenig iſt in der wahren Dichtkunſt, Gedanke und Ausdruck von ein- ander zu trennen: und es iſt beinahe immer ein Kennzeichen einer mittelmaͤßigen Poeſie, wenn ſie gar zu leicht zu uͤberſezzen iſt. 7. Jch thue noch einen Schritt: wenn in der Poeſie der Gedanke und Ausdruck ſo veſt an einander kleben: ſo muß ich ohne Zweifel in der Sprache dichten, wo ich das meiſte An- ſehen, und Gewalt uͤber die Worte, die groͤßeſte Kaͤnntniß derſelben, oder wenigſtens eine Gewißheit habe, daß meine Dreuſtigkeit noch nicht Geſezzloſigkeit werde: und ohne Zweifel iſt dies die Mutterſprache. Sie druckte ſich uns zuerſt, und in den zarteſten Jahren ein, da wir mittelſt Worte in unſre Seele die Welt von Begriffen und Bildern ſammleten, die dem Dichter eine Schazzkam- mer wird. Jn ihr muß er alſo mit der groͤßten

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/83>, abgerufen am 27.11.2024.