verlebt ist: so wüßte ich nicht, ob die Römi- sche Sprache nicht immer germanisirt, we- nigstens in eine deutsche Denkart eingekleidet werde.
Gewinnt der Ausdruck, weil er Belesen- heit zeigt? -- Es kann seyn, aber je mehr Schriftsteller ich gelesen: je mehr ich aus ih- nen Nahrung gezogen: desto unbestimmter muß meine Schreibart werden, und ihren Charakter verlieren! Wenn ich hier einen Kernausdruck von Tacitus in einen Perioden des Cicero flechte, dort Blumen aus Ho- raz, Virgil und Juvenal breche und dazwi- schen knüpfe: so kann dies freilich ein Kranz werden, der mich als einen Kenner des Al- terthums bezeichnet; aber was wieder ein alter Römer spräche, wenn er einen so un- gleichen holprichten Styl erblickte, kann ich nicht sagen. Mir ists freilich, wenn ich ei- nen alten Autor eine Zeitlang gelesen, und schnell einen neuern erwischt, manchmal vor- gekommen, als wenn ich die historias sele- ctas läse: aber ich kann mich vielleicht, ge- blendet vom Vorurtheil des Alterthums, trü- gen, und kann überhaupt über eine todte
Spra-
verlebt iſt: ſo wuͤßte ich nicht, ob die Roͤmi- ſche Sprache nicht immer germaniſirt, we- nigſtens in eine deutſche Denkart eingekleidet werde.
Gewinnt der Ausdruck, weil er Beleſen- heit zeigt? — Es kann ſeyn, aber je mehr Schriftſteller ich geleſen: je mehr ich aus ih- nen Nahrung gezogen: deſto unbeſtimmter muß meine Schreibart werden, und ihren Charakter verlieren! Wenn ich hier einen Kernausdruck von Tacitus in einen Perioden des Cicero flechte, dort Blumen aus Ho- raz, Virgil und Juvenal breche und dazwi- ſchen knuͤpfe: ſo kann dies freilich ein Kranz werden, der mich als einen Kenner des Al- terthums bezeichnet; aber was wieder ein alter Roͤmer ſpraͤche, wenn er einen ſo un- gleichen holprichten Styl erblickte, kann ich nicht ſagen. Mir iſts freilich, wenn ich ei- nen alten Autor eine Zeitlang geleſen, und ſchnell einen neuern erwiſcht, manchmal vor- gekommen, als wenn ich die hiſtorias ſele- ctas laͤſe: aber ich kann mich vielleicht, ge- blendet vom Vorurtheil des Alterthums, truͤ- gen, und kann uͤberhaupt uͤber eine todte
Spra-
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verlebt iſt: ſo wuͤßte ich nicht, ob die Roͤmi-
ſche Sprache nicht immer germaniſirt, we-
nigſtens in eine deutſche Denkart eingekleidet
werde.
Gewinnt der Ausdruck, weil er Beleſen-
heit zeigt? — Es kann ſeyn, aber je mehr
Schriftſteller ich geleſen: je mehr ich aus ih-
nen Nahrung gezogen: deſto unbeſtimmter
muß meine Schreibart werden, und ihren
Charakter verlieren! Wenn ich hier einen
Kernausdruck von Tacitus in einen Perioden
des Cicero flechte, dort Blumen aus Ho-
raz, Virgil und Juvenal breche und dazwi-
ſchen knuͤpfe: ſo kann dies freilich ein Kranz
werden, der mich als einen Kenner des Al-
terthums bezeichnet; aber was wieder ein
alter Roͤmer ſpraͤche, wenn er einen ſo un-
gleichen holprichten Styl erblickte, kann ich
nicht ſagen. Mir iſts freilich, wenn ich ei-
nen alten Autor eine Zeitlang geleſen, und
ſchnell einen neuern erwiſcht, manchmal vor-
gekommen, als wenn ich die hiſtorias ſele-
ctas laͤſe: aber ich kann mich vielleicht, ge-
blendet vom Vorurtheil des Alterthums, truͤ-
gen, und kann uͤberhaupt uͤber eine todte
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Herder, Johann Gottfried von: Ueber die neuere Deutsche Litteratur. Bd. 3. Riga, 1767, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_litteratur03_1767/96>, abgerufen am 28.11.2024.
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