Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774.

Bild:
<< vorherige Seite



ten? Kein Laster -- weil wir alle so viel hin-
reißende Tugend, Griechenfreyheit, Römer-
patriotism, Morgenlandsfrömmigkeit, Rit-
terehre,
und alle im größten Maaße -- oder
ists nicht gerade, weil wir der allen keine ha-
ben, und leider also auch ihre einseitige, ver-
theilte Laster nicht haben können. Dünne
schwankende Aeste!

Und als solche, ists freylich mit unser Vor-
zug, "eben der matten, kurzsichtigen, all-
"verachtenden, allein selbstgefälligen, nichts
"ausrichtenden
und eben in der Unwürksam-
"keit trostvollen Philosophie" fähig zu seyn.
Morgenländer, Griechen und Römer, warens
nicht.

Als solcher, ists unser Vorzug, unsre Mit-
tel
der Bildung so bescheiden zu schätzen und
anzurechnen. Geistlicher Stand, daß die
Welt nie so menschlich, theologisch aufgeklärt:
Weltlicher Stand, daß sie nie so menschlich,
einförmig gehorsam- und ordnungsvoll:
unsre Gerechtigkeit, daß sie nie so menschlich
und friedeliebend -- endlich unsre Philoso-
phie,
daß sie nie so menschlich und göttlich
gewesen sey als jetzt -- durch wen? -- da

zeigt
J 5



ten? Kein Laſter — weil wir alle ſo viel hin-
reißende Tugend, Griechenfreyheit, Roͤmer-
patriotism, Morgenlandsfroͤmmigkeit, Rit-
terehre,
und alle im groͤßten Maaße — oder
iſts nicht gerade, weil wir der allen keine ha-
ben, und leider alſo auch ihre einſeitige, ver-
theilte Laſter nicht haben koͤnnen. Duͤnne
ſchwankende Aeſte!

Und als ſolche, iſts freylich mit unſer Vor-
zug, „eben der matten, kurzſichtigen, all-
„verachtenden, allein ſelbſtgefaͤlligen, nichts
„ausrichtenden
und eben in der Unwuͤrkſam-
„keit troſtvollen Philoſophie„ faͤhig zu ſeyn.
Morgenlaͤnder, Griechen und Roͤmer, warens
nicht.

Als ſolcher, iſts unſer Vorzug, unſre Mit-
tel
der Bildung ſo beſcheiden zu ſchaͤtzen und
anzurechnen. Geiſtlicher Stand, daß die
Welt nie ſo menſchlich, theologiſch aufgeklaͤrt:
Weltlicher Stand, daß ſie nie ſo menſchlich,
einfoͤrmig gehorſam- und ordnungsvoll:
unſre Gerechtigkeit, daß ſie nie ſo menſchlich
und friedeliebend — endlich unſre Philoſo-
phie,
daß ſie nie ſo menſchlich und goͤttlich
geweſen ſey als jetzt — durch wen? — da

zeigt
J 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0141" n="137"/><fw place="top" type="header"><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/></fw><hi rendition="#b">ten?</hi> Kein <hi rendition="#b">La&#x017F;ter</hi> &#x2014; weil wir alle &#x017F;o viel <hi rendition="#b">hin-<lb/>
reißende Tugend, Griechenfreyheit, Ro&#x0364;mer-<lb/>
patriotism, Morgenlandsfro&#x0364;mmigkeit, Rit-<lb/>
terehre,</hi> und alle im <hi rendition="#b">gro&#x0364;ßten Maaße</hi> &#x2014; oder<lb/>
i&#x017F;ts nicht gerade, weil wir der allen <hi rendition="#b">keine</hi> ha-<lb/>
ben, und leider al&#x017F;o auch ihre ein&#x017F;eitige, ver-<lb/>
theilte <hi rendition="#b">La&#x017F;ter</hi> nicht haben ko&#x0364;nnen. <hi rendition="#b">Du&#x0364;nne<lb/>
&#x017F;chwankende Ae&#x017F;te!</hi></p><lb/>
            <p>Und als &#x017F;olche, i&#x017F;ts freylich mit un&#x017F;er Vor-<lb/>
zug, <hi rendition="#b">&#x201E;eben der matten, kurz&#x017F;ichtigen, all-<lb/>
&#x201E;verachtenden, allein &#x017F;elb&#x017F;tgefa&#x0364;lligen, nichts<lb/>
&#x201E;ausrichtenden</hi> und eben in der Unwu&#x0364;rk&#x017F;am-<lb/>
&#x201E;keit <hi rendition="#b">tro&#x017F;tvollen Philo&#x017F;ophie&#x201E; fa&#x0364;hig zu &#x017F;eyn.</hi><lb/>
Morgenla&#x0364;nder, Griechen und Ro&#x0364;mer, warens<lb/>
nicht.</p><lb/>
            <p>Als &#x017F;olcher, i&#x017F;ts un&#x017F;er Vorzug, <hi rendition="#b">un&#x017F;re Mit-<lb/>
tel</hi> der <hi rendition="#b">Bildung</hi> &#x017F;o be&#x017F;cheiden zu &#x017F;cha&#x0364;tzen und<lb/>
anzurechnen. Gei&#x017F;tlicher <hi rendition="#b">Stand,</hi> daß die<lb/>
Welt nie &#x017F;o <hi rendition="#b">men&#x017F;chlich, theologi&#x017F;ch</hi> aufgekla&#x0364;rt:<lb/><hi rendition="#b">Weltlicher Stand,</hi> daß &#x017F;ie nie &#x017F;o men&#x017F;chlich,<lb/><hi rendition="#b">einfo&#x0364;rmig gehor&#x017F;am-</hi> und ordnungsvoll:<lb/>
un&#x017F;re <hi rendition="#b">Gerechtigkeit,</hi> daß &#x017F;ie nie &#x017F;o <hi rendition="#b">men&#x017F;chlich</hi><lb/>
und <hi rendition="#b">friedeliebend</hi> &#x2014; endlich un&#x017F;re <hi rendition="#b">Philo&#x017F;o-<lb/>
phie,</hi> daß &#x017F;ie nie &#x017F;o <hi rendition="#b">men&#x017F;chlich</hi> und <hi rendition="#b">go&#x0364;ttlich</hi><lb/>
gewe&#x017F;en &#x017F;ey als jetzt &#x2014; durch wen? &#x2014; da<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">J 5</fw><fw place="bottom" type="catch">zeigt</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[137/0141] ten? Kein Laſter — weil wir alle ſo viel hin- reißende Tugend, Griechenfreyheit, Roͤmer- patriotism, Morgenlandsfroͤmmigkeit, Rit- terehre, und alle im groͤßten Maaße — oder iſts nicht gerade, weil wir der allen keine ha- ben, und leider alſo auch ihre einſeitige, ver- theilte Laſter nicht haben koͤnnen. Duͤnne ſchwankende Aeſte! Und als ſolche, iſts freylich mit unſer Vor- zug, „eben der matten, kurzſichtigen, all- „verachtenden, allein ſelbſtgefaͤlligen, nichts „ausrichtenden und eben in der Unwuͤrkſam- „keit troſtvollen Philoſophie„ faͤhig zu ſeyn. Morgenlaͤnder, Griechen und Roͤmer, warens nicht. Als ſolcher, iſts unſer Vorzug, unſre Mit- tel der Bildung ſo beſcheiden zu ſchaͤtzen und anzurechnen. Geiſtlicher Stand, daß die Welt nie ſo menſchlich, theologiſch aufgeklaͤrt: Weltlicher Stand, daß ſie nie ſo menſchlich, einfoͤrmig gehorſam- und ordnungsvoll: unſre Gerechtigkeit, daß ſie nie ſo menſchlich und friedeliebend — endlich unſre Philoſo- phie, daß ſie nie ſo menſchlich und goͤttlich geweſen ſey als jetzt — durch wen? — da zeigt J 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/141
Zitationshilfe: [Herder, Johann Gottfried von]: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. [Riga], 1774, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_philosophie_1774/141>, abgerufen am 21.11.2024.